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04.07.2018

Das plastische Gehirn: Bessere Vernetzung von Gehirnarealen schon nach kurzem Training

Tübinger Wissenschaftler beobachten, wie schnell sich das Gehirn anpassen kann

Faserverbindungen im Gehirn, die durch den Hippocampus verlaufen und mit dem Abruf von numerischen Fakten assoziiert sind. Medienbasierte Trainings erhöhten die Stärke und Leitfähigkeit von Fasern, die mit dem Langzeitgedächtnis verbunden sind. Abbildung: Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM)

Forscher des Leibniz-Institutes für Wissensmedien (IWM) sowie der Graduiertenschule und des Forschungsnetzwerkes LEAD an der Universität Tübingen haben jetzt herausgefunden: Durch ein kurzes und intensives Rechentraining werden die neuronalen Verbindungen zwischen wichtigen Regionen im Gehirn im Erwachsenenalter stärker. Diese neuronale Plastizität durch numerisches Lernen war bereits nach nur fünf Trainingseinheiten nachweisbar. Die Ergebnisse der Studie wurden im renommierten Fachmagazin Cortex veröffentlicht.

Egal, ob ein Mensch neues Wissen oder eine neue körperliche Bewegung erlernt – immer verändern sich dabei Synapsen, Nervenzellverbindungen und ganze Gehirnareale, also die Funktion und Struktur des Gehirns. Das menschliche Gehirn ist ein Leben lang „plastisch“, d.h. es ist in der Lage sich zu verändern. Forscher und Forscherinnen um Dr. Dr. Elise Klein am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) haben funktionelle und strukturelle Veränderungen im Gehirn als Folge von medienbasiertem numerischen Lernen untersucht. Dass ein Rechentraining Auswirkungen auf unsere Rechenfähigkeit hat, scheint fast aus dem Bauch heraus klar. Das zeigte sich in der Studie auch auf neuronaler Ebene: Durch das Training veränderte sich das Netzwerk aus Gehirnarealen, das zur Lösung einer Aufgabe aktiviert wurde. In der Studie am IWM sind jetzt aber auch strukturelle Veränderungen im Gehirn durch das Rechentraining deutlich geworden – und somit anatomische Veränderungen im neuronalen Netzwerk.

Das Rechentraining konnte nicht nur erfolgreich die Leistung der Teilnehmenden verbessern, den Tübinger Forscherinnen und Forschern gelang es auch festzustellen, wie dieser Lernprozess auf neuronaler Ebene vonstattengeht. In einer vorangegangenen Studie hatten sie schon beobachtet, dass das Training die funktionelle Aktivierung in Gehirnarealen erhöht, die mit dem Abruf von Fakten aus dem Langzeitgedächtnis assoziiert sind (z. B. Hippocampus). Jetzt konnten sie mit Hilfe der diffusionsgewichteten Magnetresonanztomographie (MRT) zeigen, dass sich durch das Training auch die strukturelle Anbindung dieser Areale über Faserverbindungen verstärkt hat und dies mit erfolgreichem Lernen einherging. „Die neuronale Plastizität durch das medienbasierte Training war bereits nach nur fünf Trainingseinheiten nachweisbar“, so Elise Klein vom IWM. „Diese Veränderung auf neuronaler Ebene zeigt an sich, dass bereits kurze kognitive Trainings plastische Prozesse im Gehirn induzieren können. Die Selektivität der neurostrukturellen Veränderungen sagt etwas aus über die Verarbeitung von Rechenfakten im Gehirn.“

Damit geben die Ergebnisse nicht nur Aufschluss darüber, wie sich Lernprozesse im Gehirn mani-festieren, sondern zeigen auch das Potenzial neurokognitiver Plastizität im Erwachsenenalter. Kor-binian Moeller, Leiter der Nachwuchsgruppe Neuro-kognitive Plastizität, zu den Ergebnissen der Studie: „Sie erlauben weitergehende Erkenntnisse über die neuronalen Grundlagen numerisches Lernens und zu den Möglichkeiten neuronaler Reorganisation im Gehirn. Sie könnten helfen bei der Entwicklung von Interventionen für Kinder mit Lernschwäche und für Patienten mit numerischen Defiziten nach einer Hirnschädigung.“

Publikation:

Elise Klein, Klaus Willmes, Silke M. Bieck, Johannes Bloechle, Korbinian Moeller, White matter neuro-plasticity in mental arithmetic: Changes in hippocampal connectivity following arithmetic drill training. Cortex, https://doi.org/10.1016/j.cortex.2018.05.017

Kontakt:

Dr. Dr. Elise Klein
NG Neuro-kognitive Plastizität
Email: e.kleinspam prevention@iwm-tuebingen.de
Telefon: +49 7071 979-205


Elise Klein arbeitet seit April 2015 im Rahmen eines Wrangell-Habilitationsprogramms am IWM in der Nachwuchsgruppe Neuro-kognitive Plastizität. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschäftigen sich hier mit den neurokognitiven Grundlagen von Wissenserwerb und Wissensnutzung. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung von numerisch-mathematischen Kompetenzen und deren neurokognitiven Korrelaten.

Das Leibniz-Institut für Wissensmedien

Das Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen erforscht, wie digitale Technologien eingesetzt werden können, um Wissensprozesse zu verbessern. Die psychologische Grundlagenforschung der rund 110 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist auf Praxisfelder wie Schule und Hochschule, auf Wissensarbeit mit digitalen Medien, wissensbezogene Internetnutzung und Wissensvermittlung in Museen ausgerichtet. Von 2009 bis 2016 unterhielt das IWM gemeinsam mit der Universität Tübingen Deutschlands ersten Leibniz-WissenschaftsCampus (WCT) zum Thema „Bildung in Informationsumwelten“. Seit 2017 wird er unter dem Titel „Kognitive Schnittstellen“ weitergeführt.

Die Leibniz-Gemeinschaft

Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 93 selbständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen u. a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren.

Über LEAD

Die Graduiertenschule und das Forschungsnetzwerk LEAD (Learning, Educational Achievement and Life Course Development) der Universität Tübingen bieten ein integriertes Forschungs- und Ausbildungsprogramm für Nachwuchswissenschaftler der Empirischen Bildungsforschung. Ein Ziel ist es, verlässliche Grundlagen für einen evidenzbasierten Ansatz in der Bildungspolitik zu schaffen, indem Studien mit belastbaren Designs durchgeführt und interdisziplinär geschulte Experten ausgebildet werden. LEAD wird im Rahmen der Exzellenzinitiative über die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert.

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