Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät

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06.11.2018

Großbritannien und die EU

Der Fachbereich Wirtschaftswissenschaft hatte zu einer Brexit-Konferenz am 26. Oktober 2018 eingeladen. In einem wissenschaftliche Workshop legten hochkarätige Wissenschaftler aus Zürich, Dublin, London und der Bundesrepublik Ihre Sichtweise zu den ökonomischen Kosten, den Auswirkungen auf den Handel, zur rechtlichen Lage sowie zu Inflation und Lebensstandard dar. Hans-Werner Sinn, ehemals Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, hielt die Keynote, die eine abschließende Podiumsdiskussion einleitete.

Gelassenheit gegenüber dem Austritt des Vereinigten Königreichs (UK) aus der EU sei höchst gefährlich. Gleich zu Beginn seines Vortrags machte Hans-Werner Sinn die ökonomische Bedeutung der Briten für die EU klar. Das Vereinigte Königreich hatte im Jahr 2017 einen Anteil von 15.2 % am Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller EU-Länder. Nur Deutschland war mit einem Anteil von 21.3 % bedeutsamer. Gemessen am BIP sei der Austritt von UK mit einem gemeinsamen Austritt von 19 anderen EU-Ländern vergleichbar, nämlich den 19 Ländern mit dem geringsten BIP. Was bedeutet dies für die Europäische Union und im Speziellen für Deutschland? Und welche Konsequenzen kann der Brexit für Großbritannien haben?

Deutlich wurde die große Bedeutung der Briten in der EU anhand eines Exkurses in die Geschichte der 1958 entstandenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der daraus hervorgegangenen EU. Der Élysée Vertrag von 1963 besiegelte die deutsch-französische Freundschaft. Der EWG-Beitritt des Vereinigten Königreichs im Jahre 1973 eröffnete den anderen EWG-Mitgliedern Handelsbeziehungen mit nahezu der ganzen Welt. Davon profitierte auch Deutschland in hohem Maße. Nun, 45 Jahre später, stehe die EU vor einem großen Dilemma, wenn das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 die EU verlasse. Nur ein Wunder könne das noch abwenden, so Sinn.

Den Austritt kompensieren

Nach Einschätzung des Wirtschaftsforschers könnten die Briten einen Austritt ökonomisch besser verkraften als die restlichen Länder der EU. UK habe sich schon seit 1995 im Export zunehmend von der EU unabhängig gemacht, und die USA sowie „der Rest der Welt“ seien als Handelspartner wichtiger geworden als Deutschland und Frankreich. „Waren die Briten ein Opfer der osteuropäischen Ausweitung der EU?“ Diese Frage stellte Sinn anlässlich einer Grafik, die verdeutlichte, dass die Leistungsbilanz des UK relativ zu dessen BIP seit 1997 zunehmend negativ wurde. Für Deutschland jedoch stand UK als Exportzielland über lange Zeit an dritter Stelle; heute ist es nach den USA, Frankreich und China an vierte Stelle gerutscht. Dennoch, der Brexit betrifft also einen bedeutenden Teil der deutschen Exporte. Insbesondere Bayern und Baden-Württemberg mit ihrer Automobilindustrie würden von Handelseinschränkungen getroffen werden.

 

Zu viele Mehrheitsentscheidungen

Die Frage der Kapitalflucht, verbunden mit der Schwächung des Britischen Pfunds, speziell nach dem Referendum, sowie die Unterschiede zwichen UK, Frankreich sowie Deutschland hinsichtlich der Bedeutung des Verarbeitenden Gewerbes im Vergleich zu den Dienstleistungen waren weitere Themen.

Sinn zeigte ernstzunehmende Argumente der Brexit-Befürworter auf: Etwa die Kritik an der zunehmenden Bedeutung des Mehrheitsprinzips bei EU-Entscheidungen, die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips bei der Abgrenzung zwischen EU-Kompetenz und Kompetenz der Nationalstaaten bzw. Regionen, die Vergemeinschaftlichung von Risiken ohne gemeinsamen Staat, oder die Unzufriedenheit mit der Position als Nettobeitragszahler. Aus deutscher Sicht sieht Sinn die Gefahr, dass die „free traders“ in der EU (unter ihnen eben auch Deutschland) durch den Brexit die im EU-Vertrag verankerte Sperrminorität von 35 % der Bevölkerung verlieren werden. Sinn beschwor das Bild der „Festung Europa“, die als Konsequenz geänderter Machtverhältnisse wahrscheinlicher werde.

Migration, Inklusion und Wohlfahrt

Zum Schluß führte Sinn den Zuhörern vor Augen, dass drei wünschenswerte Ziele kaum gleichzeitig erreichbar sind: 1. Die freie internationale Migration, 2. Unterschiedlich großzügige nationale Wohlfahrtssystseme und 3. die Einbeziehung der Migranten in das nationale Wohlfahrtssystems ihres Wohnsitzlandes. Damit spielte er auf die Sorgen vieler EU Kritiker an, dass Bürger aus ärmeren EU-Staaten deshalb in reichere Mitgliedsstaaten wandern, weil sie dort in den Genuß des großzügigeren Sozialstaates kommen. Dies ließe sich ändern, indem zwar Arbeitsmigration möglich sei, jedoch die Heimatländer die Pflicht hätten, die Sozialleistungen zu schultern. Damit würde das dritte Ziel aufgegeben, aber Sinn betonte, dies sei wesentlich besser, als das Aufgeben der beiden anderen Ziele.

Nichtsdestotrotz, wenn der Brexit stattfinde, dürfe dies keinesfalls den freien Handel und freie Migration einschränken. Um das zu verhindern, solle die EU mit Angeboten auf die Briten zugehen, und von jeder Art von „Bestrafung“ für den Brexit absehen. Das Beenden der EU-Mitgliedschaft und ein Wiedereintritt müssten im Sinne einer freiwilligen Teilhabe an der Gemeinschaft vereinfacht werden. Die EU dürfe kein Gefängnis werden. Mit diesem Plädoyer schloss der Wirtschaftsforscher seinen Vortrag im Pfleghofsaal der Universität.

Text und Bild: Ramona Gresch/Universität Tübingen, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft

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