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28.03.2017

Mehr Matheunterricht lockt Frauen nicht in MINT-Berufe

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen untersuchten Gender-Effekte der Oberstufenreform

Eine Erhöhung der Pflichtstunden für Mathematik in der Oberstufe führt nicht automatisch dazu, dass sich mehr Frauen für MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) entscheiden. Im Gegenteil: Die Reform der gymnasialen Oberstufe, nach der alle Schülerinnen und Schüler Mathematik auf Leistungskursniveau belegen müssen, hat die Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Interessen im MINT-Bereich noch verstärkt. Schülerinnen hatten außerdem nach der Reform weniger Selbstvertrauen in ihre eigene Mathematikkompetenz als vorher. Das haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Graduiertenschule und des Forschungsnetzwerkes LEAD an der Universität Tübingen in einer Studie über die Gender-Effekte der Oberstufenreform herausgefunden. Die Ergebnisse wurden im Journal of Educational Psychology veröffentlicht.

Seit der Oberstufenreform 2002 muss in Baden-Württemberg das Kernkompetenzfach Mathematik von allen Schülerinnen und Schülern vierstündig in den letzten beiden Jahrgangsstufen vor dem Abitur belegt werden. Eine Belegung auf „Grundkursniveau“ mit weniger Unterrichtsstunden ist seither nicht mehr möglich. Damit soll eine hohe Qualität an Mathematikkenntnissen gewährleistet werden. Da gute Mathematikkenntnisse in Zusammenhang mit der Wahl von Studienfächern aus dem MINT-Bereich stehen, lag die Vermutung nahe, dass sich nach der Reform mehr Mädchen für ein MINT-Studium entscheiden würden.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten deshalb, ob sich die Reform auf die spätere Studienfachwahl auswirkte, welche Effekte sie auf die Mathematikleistung von Mädchen und Jungen hatte, wie Schülerinnen und Schüler ihre eigene Leistung vorher und nachher einschätzten und schließlich auch, ob sich ihr Interesse im MINT-Bereich veränderte. Dazu verglichen die Forschenden Daten von rund 4.700 Schülerinnen und Schülern vor der Oberstufenreform mit Daten von ebenso vielen Schülerinnen und Schülern nach der Reform. Diese wurden im Rahmen einer Langzeitstudie erhoben.

Das Ergebnis: Die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen in Mathematik haben sich nach der Reform verringert, auch wenn nach wie vor die Jungen besser abschnitten. Aber obwohl die Schülerinnen eine höhere Leistung erzielten, schätzten sie ihre mathematischen Fähigkeiten nach der Reform schlechter ein als zuvor. „Dies könnte daran liegen, dass sie vor der Reform häufiger Grundkurse mit weniger Mathematikunterricht gewählt hatten und das gestiegene Leistungsniveau nach der Reform dazu geführt hat, dass die eigene Leistung geringer eingeschätzt wird“, vermutet Nicolas Hübner, Erstautor der Studie. Das Selbstvertrauen der Jungen in ihre Mathematikkompetenzen hatte sich dagegen nicht verändert.

Die Mädchen zeigten zudem kaum ein größeres Interesse für Tätigkeiten in MINT-Bereichen, während Jungen nach der Reform noch stärker an technisch-praktischen oder forschend-intellektuellen Tätigkeiten interessiert waren. „Dies deutet darauf hin, dass mit Hilfe von Schulreformen auch Interessen beeinflusst werden können“, erklärt Eike Wille, ebenfalls Erstautorin der Studie. Allerdings sei der Zusammenhang noch wenig erforscht und müsse genauer untersucht werden. Die Geschlechtsunterschiede bei der Studienfachwahl im MINT-Bereich haben sich durch die Reform nicht verändert. Hier entscheiden sich immer noch deutlich mehr Männer als Frauen für diese Studiengänge.

Laut den Autorinnen und Autoren lassen sich die Ergebnisse in eine Reihe von Studien einordnen, die zeigen, dass Bildungsreformen häufig zu deutlich geringeren Effekten führen als ursprünglich erwartet. Darüber hinaus werden sie in vielen Fällen auch von unerwarteten Nebenwirkungen begleitet. „Reformen im Bildungssystem gleichen bislang viel zu oft Blindflügen“, resümiert Ulrich Trautwein, Direktor der Graduiertenschule und des Forschungsnetzwerkes LEAD. „Die Ergebnisse unserer Studie unterstreichen die Bedeutung von systematischer Begleitforschung vor, während und nach der Durchführung von Bildungsreformen“.

Originalpublikation:

Hübner, N.*, Wille, E.*, Cambria, J., Oschatz, K., Nagengast, B., & Trautwein, U. (2017). Maximizing Gender Equality by Minimizing Course Choice Options? Effects of Obligatory Coursework in Math on Gender Differences in STEM. Journal of Educational Psychology. doi: 10.1037/edu0000183
*The first two authors contributed equally to this work and are listed in alphabetical order.

Kontakt:

Prof. Dr. Ulrich Trautwein
Universität Tübingen
Graduiertenschule & Forschungsnetzwerk LEAD/
Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung
Telefon +49 7071 29-73931
<link>ulrich.trautwein@uni-tuebingen.de

<link http: www.lead.uni-tuebingen.de>www.lead.uni-tuebingen.de
<link http: www.hib.uni-tuebingen.de>www.hib.uni-tuebingen.de

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