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17.08.2017

Internationale Handelsabkommen – ein Plädoyer für Pragmatismus

Zölle und andere Importbarrieren zu reduzieren, um nationale Märkte zu öffnen und den zwischenstaatlichen Handel zu erleichtern, dieses Bestreben hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts große Bedeutung erlangt. Es war ein wichtiger Motor für die enorme Zunahme des Wohlstandes, die viele Länder in jener Zeit erfahren haben. In heutiger Zeit, in der sich nicht nur die USA in eine entgegengesetzte Richtung bewegen, ist dieses Thema auf unerwartete Weise wieder aktuell geworden - siehe NAFTA.

Professor Wilhelm Kohler, Lehrstuhl für Internationale Wirtschaftsbeziehungen, hielt im Rahmen des Studium Generale „Perspektiven der Wirtschaftswissenschaft“ am 17. Juli 2017 eine Vorlesung zum gleichen Thema. Bild: Universität Tübingen

Das bekannteste Abkommen, das 1947 geschlossene General Agreement on Tariffs and Trades (GATT), ist ein multilaterales Abkommen, in dessen Rahmen die Zölle über mehrere Runden bis 1995 im Durchschnitt auf etwa ein Zehntel des Nachkriegsniveaus gesenkt wurden, und das im Jahre 1995 zur Gründung der World Trade Organization (WTO) führte. Seit den 1990er Jahren schwenkte das Bestreben der Handelsliberalisierung allerdings zunehmend auf regionale Abkommen um. Das bekannteste Beispiel dafür ist das 1994 gegründete North American Free Trade Agreement (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Diese Art von Regionalabkommen sind allerdings typischerweise Gegenstand politischer Kontroverse.

So kommentierte Donald Trump das NAFTA am 25.9.2016 mit den Worten: ”This has been the worst trade deal in history of trade deals, may be ever.”

Dieses Zitat steht in merkwürdigem Kontrast zu aktueller wissenschaftlicher Literatur, welche für die USA einen Realeinkommensgewinn aus NAFTA in Höhe von 0,08 Prozent des BIP ausweist. Das ist zwar nicht viel, aber dennoch ein Kontrast. Diese Diskrepanz zwischen politischer Kontroverse auf der einen Seite und dem Ergebnis von Berechnungen auf der Basis ökonomischer Modelle auf der anderen erstreckt sich auf nahezu alle wichtigen Handelsabkommen. Dabei zielen die klassischen Handelsabkommen auf die Beseitigung von Importzöllen, während moderne Abkommen in zunehmendem Maße auch die Beseitigung nicht-tarifärer Barrieren anstreben. Heute bestimmen insbesondere die Trans-Pacific Partnership (TPP), an dem zwölf Anrainerstaaten des Pazifik beteiligt sind, sowie die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP), das geplante Abkommen zwischen der EU und den USA, die Diskussion um internationalen Handel.

Sind Zollunionen vorteilhafter als Freihandelzonen?

Angesichts der politischen Kontroverse um Handelsabkommen ist eine Rückbesinnung auf einige grundlegende Erkenntnisse der Außenwirtschaftstheorie hilfreich. Ich meine damit die theoretischen Einsichten, die allgemein, das heißt, unabhängig von empirischen Berechnungen für konkret verhandelte Abkommen, Bestand haben. Dazu zählt z.B. die Einsicht, dass regionale Abkommen typischerweise auch Handelsumlenkungseffekte haben (eine Zunahme des Handels zwischen Mitgliedsstaaten zulasten des Handels mit Drittstaaten), die nicht nur den Mitgliedsstaaten schaden, sondern auch dazu führen, dass regionale Handelsabkommen typischerweise mit Realeinkommensverlusten von Drittstaaten verbunden sind. Dazu zählt aber auch die Einsicht, dass Regionalabkommen in Gestalt von Zollunionen (also Abkommen mit gemeinsamem Außenzoll, wie etwa im Fall der EU) für die beteiligten Länder deutlich vorteilhafter sind als sogenannte Freihandelszonen, bei denen jedes Mitgliedsland seine eigenen Außenzölle beibehält.

Ein Plädoyer für Pragmatismus

Mit Blick auf die Zukunft können beide Typen von Abkommen, multilaterale wie regionale, ihre Berechtigung haben, wenn sie entsprechend ihren besonderen Vorteilen eingesetzt werden. Im Bereich der klassischen Zollsenkung sind multilaterale Zollsenkungsabkommen unter der Schirmherrschaft der WTO nach wie vor überlegen. Diese Art der Handelsliberalisierung ist - unbeschadet der im Durchschnitt schon sehr niedrigen Zollsätze – nach wie vor wichtig, denn für einzelne Güter sind die Zollsätze noch immer sehr hoch. Im Bereich der nicht-tarifären Barrieren sind indes Regionalabkommen besser geeignet, wenngleich hier neue Herausforderungen zu bewältigen sind. Man denke insbesondere die trennscharfe Unterscheidung zwischen internationalen Regulierungsunterschieden, die wesentlich dem Zweck der Behinderung des internationalen Handels dienen, und Regulierungsunterschieden, die aus grundlegenden Länderunterschieden resultieren und nicht primär handelspolitischen Zielen dienen.

Zugewinne an Realeinkommen durch Handel und Migration

Angesichts des realpolitischen Widerstands gegen Handelsabkommen stellt sich die Frage, ob die Welt, zumindest die industrialisierte Welt, langsam in eine Situation kommt, in der die politischen und ökonomischen Kosten weiterer Handelsliberalisierung größer sind, als die davon zu erwartenden Zugewinne an Realeinkommen. Jedenfalls sind diese Zugewinne viel geringer als jene, die bei internationaler Migration zu erwarten sind. Ein Zitat aus dem Economist vom 15. Juli 2017: „Labour is the world’s most valuable commodity – yet thanks to strict immigration regulation, most of it goes to waste.“ zeigt eine völlig andere Perspektive auf. Durch internationale Migration von den armen in die reichen Länder der Welt kann, so der Economist unter Berufung auf eine neue Migrationsstudie, bis zu 78 Billionen Dollar zusätzliches Realeinkommen erwirtschaftet werden. Das entspricht in etwa dem weltweiten Bruttoinlandsprodukt des Jahres 2016. Dagegen muten die typischen Realeinkommensvorteile aus Handelsabkommen (selten mehr als zwei Prozent für die Teilnehmerländer) geradezu lächerlich klein an.

Allerdings würden die für Realeinkommenszugewinne dieser Größenordnug notwendigen Migrationsströme die Empfängerländer vor riesige Herausforderungen stellen. Natürlich wäre hier realpolitischer Widerstand zu erwarten. Aber angesichts der beträchtlichen Vorteile ist es schwer zu rechtfertigen, dass so viel politische Energie in Handelsliberalisierung gelenkt wird, und so wenig in Richtung internationale Migration.

Die Anmerkungen entstammen einem Vortrag, den der Autor, Prof. Dr. Wilhelm Kohler, im Rahmen der Ringvorlesung im Studium Generale "200 Jahre Wirtschaftswissenschaft" am 17. Juli 2017 gehalten hat.

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