Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2017: Leute

Pionier der Kinderneurologie

Zum Tode von Professor Dr. Richard Michaelis ein Nachruf von Ingeborg Krägeloh-Mann

Die Kinderklinik trauert um Professor Dr. Richard Michaelis. Er starb Mitte Januar. Michaelis war der Gründer und lange Jahre der Ärztliche Direktor der Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie und hat wesentlich den Neubau der Kinderklinik auf dem Schnarrenberg geplant und geprägt.

Richard Michaelis hat die Aspekte der Entwicklungsneurologie in die deutsche Kinderheilkunde und Kinderneurologie integriert. Schon lange vor der Etablierung von Sozialpädiatrischen Zentren hat er sich dafür eingesetzt, bei der Diagnostik von zerebralen Störungsbildern im Kindesalter nicht nur neurologische Symptome, sondern auch die motorische und geistige Entwicklung zu berücksichtigen. Die Arbeit im interdisziplinären Team und die Berücksichtigung sozialmedizinischer und ganzheitlicher Aspekte waren ihm immer selbstverständlich. Er erhielt daher 1985 in Tübingen den ersten und bislang einzigen Lehrstuhl in Deutschland, der Entwicklungsneurologie, Sozialpädiatrie und Neuropädiatrie gemeinsam vertritt. Er hat eine der größten kinderneurologischen Abteilungen in Deutschland aufgebaut mit einem Renommee weit über Landes- und Bundesgrenzen hinaus.

Geboren und aufgewachsen ist er in Schwäbisch Hall als erstes von fünf Kindern in einer Arztfamilie. Nach dem Studium der Medizin an den Universitäten Freiburg, Tübingen und München kam er über ein erstes Interesse an der Orthopädie zur Kinderheilkunde. An der Universitäts-Kinderklinik Göttingen wurde er Facharzt für Kinderheilkunde und habilitierte 1968 mit einem Thema über die Neurologie früh- und reifgeborener Kinder. Dies war der Beginn einer anhaltenden intensiven Beschäftigung mit der frühen vorschulischen kindlichen Entwicklung.

Von 1969 bis 1970 war er an der Division of Child Development des Department of Pediatrics der University of California in Los Angeles (UCLA). Dies befähigte ihn, an der Universitäts-Kinderklinik in Tübingen 1971 eine Abteilung für Entwicklungsneurologie aufzubauen, die sich schwerpunktmäßig entwicklungsauffälligen Kindern und deren Diagnostik und Therapie widmen sollte. Die Abteilung wuchs aus kleinen Anfängen im Laufe der Jahre zu einer Institution, in der Kinder mit dem gesamten Spektrum kinderneurologischer Erkrankungen diagnostiziert und betreut wurden. Sie wurde Leitbild für viele andere interdisziplinär ausgerichtete Abteilungen in Deutschland.

Richard Michaelis war immer ein universal interessierter und gebildeter Mensch und Gelehrter. Nach der Emeritierung konnte er sich noch mehr als zuvor mit anthropologischen, entwicklungstheoretischen, neurobiologischen und evolutionstheoretischen Gesichtspunkten der frühkindliche Entwicklung beschäftigen. Die Einbeziehung dieser Aspekte in die Beurteilung der kindlichen Entwicklung führte zu neuen Betrachtungsweisen und Fragestellungen, deren Bearbeitung Richard Michaelis jedoch immer vor dem Hintergrund der Umsetzbarkeit in der kinderärztlichen Praxis sah. Wir trauern um einen großen Lehrer und Mentor, der uns Vorbild bleibt für eine, trotz aller spezifischen Fachaspekte, ganzheitlich ausgerichteten Medizin.