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28.11.2017

Bei Licht betrachtet: Stäbchen in der Netzhaut funktionieren auch bei Tageslicht

Befunde eines internationalen Forscherteams könnten neue Behandlungen für Tagblindheit ermöglichen

Mond-Bild von John French, Abrams Planetarium. Netzhautbild von Hartwig Seitter, © AG Münch, Universität Tübingen

Ein internationales Forscherteam unter Leitung von Dr. Thomas Münch vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde und dem Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften der Universität Tübingen hat gezeigt, dass Stäbchen-Lichtrezeptoren in der Retina von Mäusen mehr zum Sehen beitragen als zuvor angenommen. Mit Stäbchen lassen sich keine Farben unterscheiden, und diese Lichtrezeptoren wurden bei hellem Licht für funktionslos gehalten. Das Sehen bei Tageslicht, so die bisherige Annahme, basiere allein auf den Zapfen. Die neue Studie zeigt, dass die Funktion von Stäbchen in hellem Licht sogar zunehmen kann. Sie wurde kürzlich im Fachmagazin Nature Communications veröffentlicht.

Die Fotorezeptoren in der Netzhaut, im Augenhintergrund, bestehen aus lichtempfindlichen Zellen, die uns das Sehen ermöglichen, indem sie Licht in elektrische Signale umwandeln. Von ihnen gibt es zwei Arten: Stäbchen und Zapfen. Es gilt als allgemein bekannt, dass Stäbchen für das Sehen bei sehr schwachem Licht verantwortlich sind. Zapfen dagegen erlauben uns, bei starkem Licht und in Farbe zu sehen. Diese Arbeitsteilung zwischen Stäbchen und Zapfen findet sich in praktisch allen Biologie- und Medizin-Lehrbüchern.

Eine neue Studie widerspricht dieser traditionellen Überzeugung: Eine Gruppe von Forschern von den Universitäten Tübingen, Manchester und Helsinki unter Leitung von Thomas Münch aus Tübingen zeigt darin, dass Stäbchen in Wirklichkeit ebenfalls zum Sehen bei Tageslicht beitragen. Am überraschendsten ist der Befund, dass ihr Beitrag sich bei stärkerem Tageslicht sogar erhöht – bis hin zu den höchsten Lichtstärken, die sich in einer natürlichen Umwelt finden.

Die Forscher untersuchten zunächst transgene Mäuse ohne funktionierende Zapfen und fanden hier bei starker Lichteinstrahlung sowohl in der Netzhaut als auch im Gehirn zuverlässig messbare Signale aus den Stäbchen. Anschließend konnten sie diese auch in Tieren finden, deren Zapfen normal arbeiteten.

Angesichts dieser Befunde schien es offensichtlich, dass die bis dato von den meisten Wissenschaftlern verwendeten Modelle unvollständig sein müssen. Und in der Tat weiß man aus anderen Einzelstudien bereits einiges über die Physiologie der Stäbchen, was in diesen Modellen nicht berücksichtigt wird. Indem das deutsch-britisch-finnische Forscherteam diese Modelle um zusätzliche Informationen erweiterte, konnte es nun erklären, warum Stäbchen sowohl in dämmrigem Licht als auch im Tageslicht funktionieren können.

„Wir haben zwar gezeigt, dass Stäbchen in hellem Licht eine Funktion haben“, sagt Thomas Münch, „aber es bleibt schon dabei, dass Zapfen diese Funktion viel besser und verlässlicher erfüllen. Trotzdem könnten unsere Erkenntnisse neue Wege eröffnen, was die Behandlung von Patienten ohne funktionierende Zapfen angeht, sogenannte Achromaten.“ Heutzutage sind Menschen täglich viele Stunden hellem künstlichen Licht ausgesetzt. Dem alten Paradigma zufolge wäre der Ansatz abwegig erschienen, zur Behandlung solcher Sehstörungen bei den Stäbchen anzusetzen. Mithilfe der nun vorliegenden Studie über Stäbchenfunktion in hellem Licht könnte es nun aber gelingen, neue Wege zu Therapien für Patienten ohne Zapfensicht zu finden.

Publikation:

Alexandra Tikidji-Hamburyan, Katja Reinhard, Riccardo Storchi, Johannes Dietter, Hartwig Seitter, Katherine E. Davis, Saad Idrees, Marion Mutter, Lauren Walmsley, Robert A. Bedford, Marius Ueffing, Petri Ala-Laurila, Timothy M. Brown, Robert J. Lucas, Thomas A. Münch: Rods Progressively Escape Saturation to Drive Visual Responses in Daylight Conditions. Nature Communications 2017 Nov 27; 8(1813). DOI: 10.1038/s41467-017-01816-6

Autorenkontakt:

Dr. Thomas Münch
Universität Tübingen
Forschungsinstitut für Augenheilkunde und
Werner Reichardt Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Otfried-Müller-Str. 25
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-89182
<link>thomas.muench@cin.uni-tuebingen.de

Pressekontakt CIN:

Dr. Paul Töbelmann
Universität Tübingen
Wissenschaftskommunikation & Öffentlichkeitsarbeit
Werner-Reichardt-Centrum für Integrative Neurowissenschaften (CIN)
Otfried-Müller-Str. 25
72076 Tübingen
Telefon +49 7071 29-89108
<link>paul.toebelmann@cin.uni-tuebingen.de

<link http: www.cin.uni-tuebingen.de>www.cin.uni-tuebingen.de


Zwei Fotorezeptor-Arten in der Netzhaut, Stäbchen und Zapfen, ermöglichen das Sehen über einen großen Helligkeitsbereich, von Sternenlicht zu hellstem Sonnenlicht. Stäbchen wurden bei hellem Licht für weitge-hend funktionslos gehalten. Eine neue Studie von Tikidji-Hamburyan et al zeigt nun, dass dies nicht der Fall ist und dass Stäbchen auch zum Sehen in hellen Umgebungen beitragen können. Das Bild rechts zeigt einen Querschnitt der Netzhaut, in dem verschiedene Zellen farblich markiert sind. Fotorezeptoren sind die grünen Zellen rechts.


Mond-Bild von John French, Abrams Planetarium. Netzhautbild von Hartwig Seitter, © AG Münch, Universität Tübingen

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