Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2016: Leute

Von der Virusevolution zur Welternährung.

Zum Tode von Dr. Lieselotte Schilde-Rentschler ein Nachruf von Harald Jockusch

Mit Lieselotte Schilde-Rentschler hat uns eine bedeutende, aber zugleich ungewöhnlich bescheidene und liebenswerte Forscherpersönlichkeit verlassen. Sie ist in Tübingen am 6. August 2016 nach langer schwerer Krankheit verstorben.

Die 1938 geborene Tochter eines Amtsgerichtsrats wuchs in einem gutbürgerlich schwäbischen Milieu in Esslingen am Neckar auf, wo sie 1954 ihr Abitur machte. Sie studierte Biologie, Chemie, Physik und Philosophie in Tübingen und Berlin. In Tübingen kam sie über eine Hilfskraftstelle in Kontakt mit dem Max-Planck-Institut für Biologie.

Die ehrwürdige Eberhard Karls Universität in Tübingen war in den 1950er-Jahren nicht nur eine traditionsreiche Intellektuellenschmiede, sondern lockte Studenten aus allen Teilen Deutschlands an – nicht zuletzt durch prominente norddeutsche akademische Lehrer, wie den Rhetorikprofessor Walter Jens, der Genetiker Gerhard Schramm und die Biologen Erwin Bünning und Georg Melchers.

In dieser Runde hat Lilo – wie sie allgemein genannt wurde – Rentschler, in den 1960er-Jahren ihren späteren Mann, Claus Schilde kennengelernt. Er wurde Doktorand bei Erwin Bünning, sie entschloss sich, ihre Doktorarbeit in der Abteilung Melchers am Max-Planck-Institut für Biologie zu machen. Sie bearbeitete dort mit proteinchemischen Methoden ein Thema aus der molekularen Genetik, den Vergleich der Hülleneiweiße natürlicher Varianten des Tabakmosaikvirus. Unmittelbarer Betreuer war Heinz-Günther Wittmann, später einer der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für Molekulare Genetik in Berlin.

Lilo Rentschler schloss ihre Doktorarbeit 1967 ab, promovierte an der Universität Tübingen in den Fächern Mikrobiologie, Genetik und Biochemie und heiratete Dr. Claus Schilde. Als Autorin wissenschaftlicher Arbeiten und zahlreicher Kongress- und Buchbeiträge ist sie unter L. Schilde-Rentschler oder als L. Schilde zu finden.

Nach ihrer Promotion vollzog Lilo Schilde-Rentschler einen Schwenk von der molekularen Genetik am Virusmodell zur pflanzlichen Zellbiologie. Georg Melchers hatte am Max-Planck-Institut für Biologie eine neue Arbeitsrichtung etabliert, bei der pflanzliche Zellen in Kultur durch Genübertragung und Verschmelzung von Zellen, die von ihrer Zellwand befreit waren („Protoplastenfusion“) mit dem Ziel manipuliert wurden, nach Regeneration zu Pflanzen Kultursorten mit verbesserten Eigenschaften zu erzeugen.

Dieses Arbeitsgebiet setzte Lilo Schilde-Rentschler 1970-1971 bei den japanischen Wissenschaftlern Tomizawa in Osaka und Takebe in Chiba fort. Mit den gewonnenen Anregungen kam Lilo Schilde-Rentschler an das Max-Planck-Institut in der Corrensstraße zurück. Die Optimierung der Protoplastenherstellung und -fusion und die anschließende Regeneration und In vitro Kultur der Pflanzen und die damit erleichterte genetische Manipulation von Pflanzenzellen, auch in Kooperation mit einer Arbeitsgruppe in Seattle, USA, wurden in dieser Zeit vorangetrieben.

1978 wurde Lilo Schilde-Rentschler als Arbeitsgruppenleiterin des erst sieben Jahre zuvor gegründeten Internationalen Zentrum für Kartoffelforschung (Centro Internacional de la Papa, abgekürzt CIP) in der peruanischen Hauptstadt Lima berufen, wo sie ihre in Tübingen und Japan erworbene Expertise auf die ursprünglich in den Anden heimische Kartoffelpflanze anwenden konnte. In Mittel- und Südamerika sind auch die Pathogen-resistenten Kartoffel-Wildarten zu finden. Diese werden am CIP gesammelt und charakterisiert und bilden eine wichtige Basis für die Resistenzforschung. Zu den Aufgaben von Schilde-Rentschler am CIP gehörte die Leitung der Laborarbeiten in Lima, aber auch die Praxis in der Experimentalstation des Instituts in den Andenbergen, in dem das wertvolle Genreservoir der Wildarten gesammelt wird, aus dem man Erbfaktoren für Resistenzen gegen verschiedene bakterielle, Pilz- und Viruskrankheiten auf die kultivierten Kartoffelsorten zu übertragen hofft.

Lilo Schilde-Rentschler war am CIP für die Gewebekultur und die damit verbundene Genbank sowie für die schwierige Befreiung der Kulturen von pathogenen Viren verantwortlich. Die Zeit in Lima war nicht nur der Forschung gewidmet, sondern auch der Weiterbildung von Pflanzenzüchtern und mit Agronomie befassten Regierungsangestellten. Dazu kam die wissenschaftliche Betreuung von Doktoranden auch aus den lateinamerikanischen Nachbarländern. Lilo Schilde-Rentschler erhielt Einladungen zu wichtigen Kongressen in Drittweltländern, und sie hielt sich in Ecuador, Kenia und in Vietnam auf, um die Forschungsergebnisse vom CIP zur Anwendung weiterzutragen. So wurde sie eine international bekannte Expertin auf dem Gebiet der Welternährung, und dies war verbunden mit internationalen persönlichen Beziehungen - aus einer Schwäbin wurde eine Weltbürgerin.

1985 war sie wieder zurück in Deutschland, zunächst für kurze Zeit am Max Planck Institut für Züchtungsforschung in Köln, und führte dann an der Universität Tübingen Projekte in internationaler Kooperation, z. B. mit Arbeitsgruppen in Nigeria, den Niederlanden und Kolumbien durch, einschließlich der Betreuung von Doktoranden. Mit den Arbeitsgruppen von Professorin Dr. Helga Ninnemann und Professorin Dr. Vera Hemleben, ergab sich eine enge und intensive Zusammenarbeit. Vera Hemleben über diese Zeit: „In einem über zwölf Jahre laufenden Verbundprojekt Gesunde und leistungsstarke Kartoffeln durch Biotechnologiewurde in Kooperation mit Professor Dr. Gerhard Wenzel, damals Leiter des Institutsfür Resistenzgenetikan der Bundesforschungsanstalt für Land- und Forstwirtschaft, Grünbach, und zahlreichen Kartoffelzüchtern an Erbfaktoren gearbeitet, die der Kartoffelpflanze Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitskeime vermitteln.“

Lilo Schilde-Rentschler gab ihr Wissen nicht nur in Kursen, Vorlesungen und Tagungen weiter. Es war ihr auch wichtig, dass ihre Arbeiten auch unter der nicht-akademischen Öffentlichkeit bekannt wurden.

Eine wichtige Funktion entfaltete Lilo Schilde-Rentschler aber auch bei einer unter Freunden, Kollegen und Studenten besonders beliebten Veranstaltung, sonntäglichen Tee- und Kaffeerunden unter dem Nussbaum in subtropischen Garten der Schildes in Wendelsheim bei Rottenburg, bei denen sie mit selbstgebackenen Kuchen, wie immer zurückhaltend, bescheiden und herzlich die Gäste bewirtete.

Nun hat sich Lilo Schilde-Rentschler endgültig von uns verabschiedet. Mit ihr ist auch ein Stück Tübinger Diskussions- und Lebenskultur vergangen.