Uni-Tübingen

Forschungsidee, Leitthema, Struktur

Ambiguität oder Mehrdeutigkeit durchzieht alle Lebensbereiche, Wissenschaften, kulturelle Praktiken und Formen von Kommunikation. Es handelt sich um ein Querschnittsphänomen, das in besonderer Weise dazu herausfordert, interdisziplinär erforscht zu werden. Einerseits ist Ambiguität geradezu ein inhärentes Merkmal von Sprache und Kommunikation, andererseits ist Mehrdeutigkeit auch in vielfacher Weise in außersprachlichen, aber sprachlich interpretierten Zusammenhängen anzutreffen: und zwar immer dort, wo ein Gegenstand, ein Konzept, eine Situation, eine Person, ein Verhalten, eine Handlung usw. erkannt und beurteilt werden muss. Ambiguität ist also z.B. genauso im Spiel, wenn es darauf ankommt, sich in alltäglich-komplexen sozio-kulturellen Situationen zurechtzufinden, wie wenn die Frage nach der aktuellen Bedeutung überlieferter Texte und Praktiken gestellt wird oder wenn der Zusammenhang von Sprache und Kognition untersucht werden soll.

Im GRK geht es darum, Ambiguität an solchen Schnittstellen zu erforschen. Während Mehrdeutigkeitsphänomene in fast allen Einzeldisziplinen immer wieder untersucht worden sind, ist ihr Zusammenwirken in der Praxis von Kommunikation, Text, Wahrnehmung und Verhalten ebenso wenig geklärt wie die Frage nach der Möglichkeit eines gemeinsamen theoretischen Erklärungsrahmens. Die Grundlage dafür bilden folgende Feststellungen: (1) Ambiguität ist ein dynamisches Phänomen, was z.B. bedeutet, dass sie potenziell in (sprachlichen) Zeichen vorhanden ist, aber nur unter bestimmten Bedingungen funktional wird; (2) Ambiguität wird im Diskurs zwischen Sprechern bzw. Produzenten einer Äußerung (Autoren usw.) und Hörern bzw. Rezipienten (Lesern usw.) ausgelöst oder aufgelöst; (3) unterschiedliche bzw. sich historisch wandelnde Produktions- und Rezeptionskontexte tragen ebenfalls zur Auslösung und Auflösung von Ambiguität bei. Strategien der Verwendung und Vermeidung, des Erkennens und Ignorierens von Ambiguität stehen in Beziehung zu nichtstrategischen Prozessen der Ambiguitätsauslösung, -auflösung und -vermeidung.

Die im GRK entstehenden Arbeiten werden das Phänomen der Ambiguität in sprachlichen Äußerungen aller Art an den Schnittstellen von Produktion und Rezeption sowie von Sprachsystem und Diskurs untersuchen. Dabei gilt der Frage besondere Aufmerksamkeit, ob und wie Ambiguität in Kommunikationsprozessen strategisch eingesetzt bzw. vermieden wird. Es geht also darum, wie Sprecher und Hörer mit der im Sprachsystem angelegten Ambiguität im Diskurs umgehen, aber auch, wie Ambiguität im System aus dem Diskurs heraus entstehen kann. Aus dieser Fragestellung ergibt sich konsequent die fachliche Zusammensetzung des GRK, die eine linguistische Kernkompetenz mit einer Kompetenz in denjenigen Gebieten verbindet, die am häufigsten mit Ambiguitätsphänomenen in sprachlichen Äußerungen zu tun haben (Literaturwissenschaft, Allgemeine Rhetorik, Rechtswissenschaft, Theologie und Psychologie; ebenso Medienwissenschaft und Philosophie/Ethik ). Der erwartete Mehrwert der interdisziplinären Zusammenarbeit beruht auf der Prämisse, dass diese Prinzipien in den beteiligten Wissenschaften gleichermaßen gelten, sich infolgedessen gemeinsame Forschungsanstrengungen lohnen und zu Forschungsleistungen mit hohem Synergiefaktor führen.

Das Forschungsprogramm des GRK beruht auf folgender Annahme: Produktion (Abb. 1, PS–/PS+) und Rezeption (RS–/RS+) von Ambiguität sowie das nicht-strategische Vorkommen (PS–/RS–) und die strategische Verwendung (PS+/RS+) können nur verstanden werden, wenn untersucht wird, wie diese Aspekte in den Prozessen der Ambiguitätsauslösung und -auflö­sung bzw. -vermeidung interagieren. Dabei ist die Frage nach dem Verhältnis von potenzieller Ambiguität (als ein Merkmal sprachlicher Zeichen) und funktionaler Ambiguität (als ein Merkmal des Gebrauchs dieser Zeichen) zentral. Genau diese Interaktionen und Interdependenzen stehen im Mittelpunkt der Untersuchungen, d.h. die interdisziplinäre Vorgehensweise ist die notwendige Konsequenz aus der Einsicht, dass die verschiedenen, durch theoretische Begriffe markierten Einzelaspekte des Ambiguitätsphänomens in ihrer dynamischen Beziehung zueinander erforscht werden müssen.

Die folgende Matrix zeigt diese Begriffe in vier Feldern, in denen bzw. in deren Interaktion die konkreten Forschungsvorhaben in jeweiligem Rückbezug auf das sprachliche System generiert werden:

Das Feld PS (Produktion, nicht-strategisch) umfasst Fälle der Ambiguität, die sprecherseitig vorkommen und als nicht-strategisch klassifiziert werden. Dieses Feld ist vor allem für die Sprachwissenschaft von Interesse, denn hier tritt am deutlichsten das Phänomen zu Tage, dass sprachliche Zeichen ein hohes Maß an potenzieller Ambiguität aufweisen, d.h. dass alle bedeutungstragenden sprachlichen Einheiten (Morphem, Wort, Konstituente, Satz, Text, etc.) prinzipiell mehr als eine Bedeutung haben können. Diese potenzielle Ambiguität wird im Diskurs funktional bzw. aktuell. So gebrauchen Sprecher häufig sprachliche Einheiten, die mehrdeutig sind, ohne dass deshalb eine mehrdeutige Äußerung beabsichtigt wäre; die Folge sind z.B. Missverständnisse. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass Sprecher mehrdeutige Äußerungen vermeiden (d.h. die potenzielle Ambiguität nicht funktional/aktuell werden lassen), wobei es in hohem Maße gattungs- und situationsabhängig zu sein scheint, ob und in welchem Maße dies geschieht. Zu untersuchen sind also die Prozesse, die zur Ambiguitätsauslösung führen können und andererseits Prozesse, die nicht zuletzt aus historischer Perspektive als Funktionen der Ambiguitätsvermeidung interpretiert werden können. Die Fälle, in denen Ambiguitäten als zufällig klassifiziert werden können, sind zahlreich und allgegenwärtig. Daraus ergibt sich eine übergeordnete Fragestellung, die auch als „Ambiguitätsparadox“ bezeichnet wird (vgl. Clark/Clark 1977: 80): Wie kann man erklären, dass ein hoher Anteil aller Äußerungen, die produziert werden, Ambiguitäten enthalten, diese aber in der konkreten Kommunikationssituation nicht zum Tragen kommen und oft weder vom Sprecher noch vom Hörer als solche erkannt werden? Das Ambiguitätsparadox kann durch das Ineinandergreifen verschiedener Faktoren erklärt werden: der starke Kontextbezug, die intonatorische Ausgestaltung und das Weltwissen sind ebenso relevant wie die unter dem Begriff der Ambiguitätstoleranz bekannte Möglichkeit, dass Sprecher und Hörer nicht alle Ambiguitäten unmittelbar auflösen müssen oder wollen.

Die strategische Verwendung von Ambiguität durch den Sprecher (Feld PS+; Produktion, strategisch) beruht auf der Möglichkeit, die im System der sprachlichen Zeichen angelegte oder auch erst im Diskurs erzeugte Doppel- oder Mehrdeutigkeit in der Kommunikation gezielt zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der Ambiguität auf Produktionsseite (Ambiguitätsauslösung) ist hier z.B. an die Herstellung von Indirektheit (etwa im Rahmen von Strategien der Höflichkeit) zu denken, aber auch generell an Fälle, in denen Ambiguität vom Sprecher als adäquat oder gar notwendig angesehen wird. Neben der Vieldeutigkeit finden sich dabei auch bewusste Unterspezifikation, Vagheit und Obscuritas. Strategische Ambiguität ist also in Texten ein Phänomen der Rhetorik, d.h. sie ist Mittel zur Persuasion und als solches mit bestimmten Rezeptionserwartungen verbunden. Eine systematische Erforschung dieser Zusammenhänge wird nur durch die Einbeziehung konkreter Diskursbereiche möglich sein, etwa der „Konstruktiven Ambiguität“ im Bereich der juristischen Rhetorik. Aus der Sicht der Psychologie sind situative und personale Einflussfaktoren auf die Art und Weise der Erzeugung von strategischer Ambiguität interessant. Die strategische Produktion von Ambiguität betrifft ganz zentral auch die Literaturwissenschaft: Einerseits kann die Prämisse gelten, dass Ambiguität in literarischen Texten strategisch verwendet wird (als Teil einer bedachten, häufig von hohem Sprachbewusstsein zeugenden Äußerung), andererseits ist das jeweilige Ziel schwieriger zu identifizieren als in unmittelbar wirklichkeitsbezogenen Kommunikationskontexten, und gerade deshalb geben literarische Texte Anlass, Funktionen der Ambiguität zu untersuchen.

Ein häufig anzutreffendes Ziel ist die Herstellung von Eindeutigkeit in der Kommunikation durch Vermeidung von Ambiguität oder durch Ambiguitätsauflösung; diese wiederum dient z.B. dem übergeordneten Ziel der Vermeidung von Missverständnissen oder der Entscheidungsfindung in komplexen Handlungszusammenhängen. Gerade die Vermeidung von Ambiguität hat in der neueren Forschung besondere Aufmerksamkeit im Hinblick auf das Verhältnis von Sprachsystem und Kommunikation erfahren. Es lassen sich zwei unterschiedliche Ansätze unterscheiden: der klassische Ansatz, der davon ausgeht, dass Grices Maxime „Avoid ambiguity“ und das Cooperative Principle von den Sprechern befolgt wird, und der empirisch motivierte kognitive Ansatz, der durch experimentelle Methoden festgestellt hat, dass Sprecher die Maxime „Avoid ambiguity“ in der aktuellen Sprechsituation kaum befolgen. Während die Gründe dafür im Einzelnen noch zu erforschen sind, legt diese Feststellung auch die komplementäre Vermutung nahe, dass Ambiguitätsvermeidung, wo sie denn stattfindet, häufig strategisch motiviert ist. Um diese Fragen zu klären, ist die Zusammenarbeit von Linguistik und den anderen beteiligten Fächern gefordert, denn es ist anzunehmen, dass die Ambiguitätsvermeidung vor allem jene Texte und Äußerungen betrifft, die auf Verbindlichkeit, Wahrheit und sanktionsfähigen Geltungsanspruch gerichtet sind; bei den rhetorischen Genera gilt dies z.B. für die Gerichtsrede, aber auch für rechtsverbindliche Verträge. Eine interdisziplinäre Erforschung all dieser Zusammenhänge ist bislang nicht erfolgt.

Ein wesentliches Innovationspotential des GRK besteht darin, konsequent die Hörer- bzw. Rezeptionsseite in die Untersuchung der Ambiguitätsphänomene einzubeziehen, d.h. diese stets in einem kommunikationstheoretischen Zusammenhang zu betrachten. Bei der theoretischen Verankerung geht es neben der Einbettung in ein Makromodell (z.B. Bühlers Organonmodell) um eine dynamische Modellierung der Kommunikation, die durch drei Komponenten bestimmt ist: erstens den Diskurs als Sprachspiel, das vorrangig durch Frage/Antwortrelationen strukturiert ist; zweitens um die Kommunikation als grundlegend intentionale Handlung (d.h. die Kommunikation reflektiert Ziele, Pläne und Absichten der Gesprächspartner); und drittens die Kommunikation als Erweiterung des Common Ground.

Gerade in dieser kommunikationstheoretischen Perspektive ist es wichtig, die Entstehung von Ambiguität im Rezeptionsakt zu untersuchen, wenn diese nicht bestimmten Strategien geschuldet ist (Feld RS; Rezeption, nicht-strategisch). Eine solche Ambiguitätsauslösung ist z.B. im Fall von mondegreens (Verhörern) zu beobachten. In historischer Perspektive sind Fälle der Reanalyse besonders interessant. So kam das altfrz. Wort merci, in seiner ursprünglichen Bedeutung ‚Gnade‘, konventionell in einer Dankesformel des Typs „Grant merci!“ vor (ursprünglich: ‚welch große Gnade Sie mir da gewähren!‘). Es wurde in der Folge als direkter Ausdruck für ‚danke‘ reanalysiert, weil es eben ständig in der betreffenden Formel bzw. in entsprechenden kommunikativen Verwendungen vorkam. Selbst im Falle syntaktischer Reanalyse (rebracketing) ist davon auszugehen, dass ein inhaltlich orientierter Uminterpretationsprozess vorliegt.

Häufig geht es jedoch darum, dass der Hörer eine Ambiguitätsauflösung vornehmen muss, d.h. dass er aufgrund der Ökonomisierung auf Sprecherseite, die zu Ambiguität führt, einen erhöhten Verarbeitungsaufwand leisten muss (vgl. PS). U.a. im Bereich der psycholinguisti­schen Sprachverstehensforschung werden Antworten auf die Frage gesucht, wie der Hörer während des Sprachverstehensprozesses mit Ambiguitäten umgeht. Dafür wurden bisher in erster Linie syntaktische Ambiguitäten untersucht und Ökonomieprinzipien formuliert, anhand derer der Parser, also das syntaktische Verarbeitungssystem, die Struktur auswählt, die am wenigsten komplex ist. Es wurde wiederholt beobachtet, dass bei der Disambiguierung die Prosodie eine wichtige Rolle spielt. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, ob dem Hörer bei der Verarbeitung die Mehrdeutigkeit der Äußerung bewusst wird oder nicht. Genauso wenig wurde bisher betrachtet, ob der Hörer bei der Verarbeitung von Ambiguitäten Inferenzen bezüglich der (strategischen) Ambiguitätserzeugung auf Sprecherseite zieht. In Bezug auf die Prozesse der Ambiguitätsauflösung wurde in jüngerer Zeit beobachtet, dass Mehrdeutigkeiten nicht immer disambiguiert werden (good-enough interpretation bzw. shallow processing) bzw. dass die Ambiguitätsauflösung zumindest für bestimmte Typen von Mehrdeutigkeiten (z.B. Skopusambiguitäten) in hohem Maße kontextabhängig ist. Es ist anzunehmen, dass auch hier Hörerstrategien bzw. Inferenzen bezüglich des strategischen Verhaltens des Sprechers eine Rolle spielen. Weiterhin ist ungeklärt, welche Kontext- bzw. Diskurseigenschaften (einschließlich Gattung, Diskurstradition usw.) die Ambiguitätsauflösung (nicht) erzwingen, d.h. welche pragmatische Prinzipien eine Rolle spielen (Least Effort Principle, Cooperative Principle). Damit wird deutlich, dass nicht nur die Linguistik und Psycholinguistik, sondern alle Wissenschaften, die sich mit Interpretation beschäftigen zur Klärung der Prinzipien einer hörerseitigen Auflösung von Ambiguität beitragen können und müssen.

Ambiguität kann, wie sich hier schon zeigt, auch auf Hörerseite Teil eines strategischen Kalküls sein (Feld RS+; Rezeption, strategisch). Dabei handelt es sich z.B. um Prozesse, bei denen sprachliche Äußerungen vom Rezipienten gezielt uminterpretiert werden. Dies be­trifft insbesondere größere sprachliche Einheiten (Texte) und bedeutet im Effekt meist eine Ambiguitätsauslösung, denn entweder wird eine eindeutige Äußerung als mehrdeutig inter­pretiert oder es wird das Bedeutungsspektrum einer mehrdeutigen Äußerung verändert. Im Bereich mündlicher Kommunikation ist an den Fall gezielter Verhörer zu denken, in dem Rezeption ebenfalls produktiv wird. Schließlich kann die strategische Rezeption auch darin bestehen, dass eine mehrdeutige Äußerung vom Rezipienten als eindeutig interpretiert wird, also eine Form der Ambiguitätsauflösung vorliegt. Dieser wechselseitige Bezug von hörerseitiger Ambiguitätsauslösung und -auflösung findet sich in der strategischen Dimension der Rezeption von Texten aller Art in sich wandelnden kulturellen Kontexten. Dies gilt insbesondere für Texte, welche tradiert werden, also in irgendeinem Sinn kanonisch sind (sakrale Texte, literarische Klassiker, kanonische Rechtstexte u.a.) und mit denen häufig regelgeleitet umgegangen wird. Um die Bedeutsamkeit dieser Texte für die jeweilige kulturelle Gegenwart sichtbar zu machen, wird u.a. ein mehrfacher Schriftsinn etabliert. Die Bibelrezeption ist dafür ein Musterbeispiel: Disambiguierung der biblischen Texte ist für die religiöse Praxis erforderlich. Ausgehend von der Exegese des zweiten Jahrhunderts lässt sich die strategische Rezeption mit dem Ziel der Vereindeutigung nachzeichnen; diese Rezeption geschieht paradoxer Weise zumeist durch Mehrdeutigkeitszuweisungen. Die jeweils aktuelle Kontextualisierung produziert ihrerseits wieder Ambiguitäten, die durch neue Strategien in den folgenden Generationen aufgehoben werden sollen. So entsteht eine Perpetuierung der Ambiguitäten; die Disambiguierung ist stets nur im jeweiligen historischen Kontext der aktuellen Interpretation wahrzunehmen.