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06.03.2017

Wikinger sind die neuen Helden

Archäologin untersucht im Sonderforschungsbereich „RessourcenKulturen“ der Universität Tübingen den Wandel der Wikinger-Begeisterung zur globalen Marke

In Tønsberg, Norwegens ältester Stadt werden die berühmten Wikingerschiffe neu hergestellt ‒ hier findet auch das jährliche Wikinger-Festival statt. Foto: Nina Nordström

Wikinger sind die neuen Helden der Gegenwart: Im vergangenen Jahrzehnt ist ein regelrechter „Viking Hype“ entstanden, der ‚den Wikinger‘ zur globalen Marke gemacht hat, wie Dr. Nina Nordström vom Sonderforschungsbereich RessourcenKulturen (SFB 1070) der Universität Tübingen in ihrer Forschung dokumentiert. Anstelle des lange gängigen Bildes vom primitiven Krieger stünden die skandinavischen Seefahrer heute für Mut, Abenteuer, Revolution und starke Frauen. „Sie gelten als Menschen mit großem Potenzial und werden weltweit zu Identifikationsfiguren ‒ nicht nur in Europa, sondern auch in Ländern wie Saudi-Arabien, China und Südamerika. Diese globale Begeisterung ist mit nichts vergleichbar, weder die Römer noch die Ritter können hier mithalten.“ Seit drei Jahren verfolgt die Archäologin, wie Wikinger in Gesellschaft und Medien wahrgenommen und thematisiert werden. Sie sammelt Berichterstattungen in Medien, verfolgt die Entwicklung verschiedener Fan-Bewegungen und führt immer wieder Interviews mit skandinavischen Wissenschaftlern, Ausstellungsmachern und Handwerkern.

Die Wikinger faszinieren moderne Gesellschaften schon lange, sei es um die Jahrhundertwende bei den Ausgrabungen des Gokstad- und des Oseberg-Schiffes in Norwegen, in Hollywood-Filmen der 1950er Jahre oder in der Musik des Extreme-Metal. Dabei ist unser Wissen über sie begrenzt: Selbstverständlich gab es nicht „den Wikinger“, der Begriff bezeichnet vielmehr ein Vielzahl skandinavischer Siedler des Frühmittelalters (800-1060 n.Chr.). Auf Wiking gehen war eine Bezeichnung für Kriegs- und Handelsfahrten, die Leute des Nordens nannten sich selbst nicht Wikinger. Im Gegensatz zu ihren europäischen Nachbarn hinterließen sie keine schriftlichen Aufzeichnungen, unser heutiges Wissen basiert primär auf materiellen Hinterlassenschaften, die künstlerisch ein sehr hohes Niveau widerspiegeln.

Die aktuelle Wikinger-Begeisterung lässt sich laut Nordström gut mit einem Phänomen der Moderne beschreiben, das der polnische Soziologe Zygmunt Baumann „Retrotopia“ genannt hat: Danach greifen Menschen heute weniger auf Utopien, Visionen der Zukunft, zurück, sondern treten den Rückzug in die Vergangenheit an. Der Wunsch, in einer besseren Welt zu leben, werde auf vergangene Epochen projiziert, die sie wiederbelebten.

„Dabei repräsentieren die Wikinger auch das moderne Skandinavien und umgekehrt. Sie haben sich zu einer identitätsstiftenden Ressource in einem viel größeren Kontext entwickelt“, sagt die Wissenschaftlerin. „Sie sind eine Inspirationsquelle für Entdeckungs- und Abenteuerlust und die Rebellion in einer immer komplizierteren Welt, die nach Helden sucht.“ So habe der Bezug auf Kultur und Lebensweise der Wikinger inmitten von Globalisierungsängsten eine stabilisierende Wirkung. „Auf der Suche nach einem Ruhepol möchten die Menschen an dem ‚skandinavischen Wunder‘ der ‚modernen Wikinger‘ teilhaben, das sie mit den Schlagworten Wohlstand, Lebensstil und Natur verbinden.“

Die Vogue titelt beispielsweise: „Beyond Paleo: Is Eating like a Viking the Next It Diet?“ und zeigt dazu das Bild eines gedeckten Tisches mit einer Servierhaube in Form eines polierten Wikingerhelmes. Das zuvor schmutzige Image der Wikinger scheint vergessen, sie sind in unserer Gesellschaft auch für den gehobenen Stil geeignet. „Zwar geht der Retrotopia-Trend nicht so weit, dass man sich im Zeitalter von Smartphones eine neue Wikingerzeit wünscht“, sagt die Wissenschaftlerin. „Aber nach dem Motto ‚etwas Wikingerblut in den Adern kann nicht schaden‘ lassen derzeit in Großbritannien immer mehr Menschen ihre DNA testen ‒ in der Hoffnung, mit den Menschen aus dem Norden verwandt zu sein.“

Die Szene sei heute sehr bunt und vielfältig sei und nehme bewusst Abstand von unerwünschten (beispielsweise nationalistischen) Strömungen, sagt die Forscherin. So beschäftigten sich moderne Bootsbauer mit dem naturgetreuen Nachbau von Wikingerschiffen. Nordström befragte Handwerker zu den ausgefeilten Herstellungstechniken und dem verlorenen Knowhow der damaligen Schiffsbauer ‒ bis heute stellt sich der Nachbau eines Wikingerschiffes als äußerst kompliziert dar.

Relativ jung ist die Mischung von Extreme-Metal und altnordischer Volkmusik auf Festivals, die von Menschen auf der ganzen Welt besucht werden. Die Fans sähen sich musikalisch auf der Suche nach dem vermeintlichen Ursprung und identifizierten sich dabei mit vorchristlichen Wikingern, die für eben diesen stünden, sagt Nordström. So findet das dreitägige Festival „Midgardsblot metalfestival“ im norwegischen Borre auf dem Gelände des „Midgard historisk senter“ direkt neben dem berühmtesten Gräberfeld der Wikingerzeit statt. Dabei werden unter anderem Workshops zum politischen Missbrauch des Wikinger-Erbes, Frauengleichstellung und Extreme-Metal abgehalten. Auf solchen Festivals würden auch Wechselwirkungen zwischen Wikingerdarstellungen und Medien deutlich, so die Wissenschaftlerin. Beispielsweise trügen Festival-Besucher die Frisuren der TV-Serie „Vikings“: abrasierte Haare und geflochtene Zöpfe. Damit verblasst die Vorstellung des 19. und 20. Jhs. von den zotteligen langhaarigen Wikingern. Zugleich schaffen phantasievolle Tattoos eine neue Dimension des Aussehens ohne historische Belege.

Publikationen:

  • Nordström, Nina 2016. The Immortals: Prehistoric Individuals as Ideological and Therapeutic Tools in our Time, in H. Williams and M. Giles (eds.) Archaeologists and the Dead, 204-232, Oxford: Oxford University Press.
  • Nordström, Nina und Staecker, Jörn 2014. Ick bin een Wikinger! Das Bild der Wikinger im Wandel, in Museums Journal, Wikinger – Leben und Legende, 3/2014 Juli – September.

Der amerikanische Dekorationsmaler Robert Fox verziert einen Teil des Nachbaus des Oseberg-Schiffs auf dem Tønsberg Wikinger-Festival in Norwegen. Foto: Nina Nordström

KAMPFAR official, eine Pagan- und Folk-Metal-Band beim Midgardsblot-Musikfestival in Borre, Norwegen. Einige der bedeutendsten Metal-Bands der Welt treffen sich jährlich an den berühmten Grabhügeln der Wikingerzeit bei Tønsberg. Foto: Stig Pallesen, StiPa Photography

Kontakt:

Dr. Nina Nordström
Universität Tübingen
Sonderforschungsbereich 1070 RessourcenKulturen
Telefon +49 7071 29-73598
<link>nina.nordstroem@uni-tuebingen.de

Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Dr. Karl Guido Rijkhoek
Leitung
Antje Karbe
Pressereferentin
Telefon +49 7071 29-76789
Telefax +49 7071 29-5566
antje.karbe[at]uni-tuebingen.de

www.uni-tuebingen.de/aktuelles

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