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21.02.2018

Tübinger Hirnforscher erhalten Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen 2018

Preisgeld dient der Etablierung einer Arzneitherapie für Patienten mit schwerer, medikamentenresistenter Epilepsie

Forschen an genetisch-bedingten Epilepsien: Preisträgerin Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch und ihre Kollegen Dr. Markus Wolff, Dr. Stephan Lauxmann, Dr. Thomas Wuttke, Prof. Dr. Holger Lerche (v.l.n.r.). Copyright: Mareike Kardinal | Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)

Für ihre Erforschung einer seltenen und schwer verlaufenden genetisch bedingten Form der Epilepsie wurde ein Team um Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung sowie der Universität und dem Universitätsklinikum Tübingen am 20. Februar 2018 mit dem diesjährigen Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen ausgezeichnet. Das Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro kommt der Entwicklung einer Arzneitherapie für Patienten zu Gute, deren Erkrankung auf einer Mutation im KCNA2-Gen beruht. Ihre Form der Epilepsie geht mit schweren Entwicklungsstörungen einher und lässt sich bislang nicht mit den üblichen Mitteln behandeln. Ein anderweitig zugelassener Wirkstoff zeigte sich im Rahmen individueller Heilversuche jedoch erfolgversprechend. Er wirkt spezifisch auf Kaliumkanäle, die bei den Erkrankten genetisch verändert sind. Mit ihm könnten betroffene Patienten erstmals medikamentös behandelt werden.

„Wir freuen uns sehr über die Auszeichnung und die damit verbundene Anerkennung unserer Arbeit“, erklärt Preisträgerin Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch. „Mit dem Preis möchten wir zum einen den Gendefekt und zum anderen die Verwendung des Wirkstoffes 4-Aminopyridin bei dieser spezifischen Epilepsieform weiter untersuchen.“ Darüber hinaus möchten die Hirnforscher eine Datenbank über die verschiedenen KCNA2-Genmutationen und damit verbundenen Unterformen der Erkrankung erstellen. Nicht bei allen ist das Medikament wirksam. Die Datenbank soll Ärzten ermöglichen, bei einem Patienten mit diagnostiziertem KCNA2-Gendefekt schnell zu entscheiden, ob der Wirkstoff helfen könne oder nicht. Auf diese Weise könne ohne große Verzögerung mit einer Therapie begonnen werden und so hoffentlich der oftmals schwere Krankheitsverlauf gelindert werden.

„Bei Patienten mit KCNA2-Gendefekt ist durch eine Mutation ein Kaliumkanal im Gehirn geschädigt. Dies führt zu epileptischen Anfällen und weiteren neurologischen Beschwerden“, schildert Biologin Hedrich-Klimosch. „Das Arzneimittel 4-Aminopyridin wiederum blockiert die Aktivität des Kaliumkanals.“ Kaliumkanäle sind kleine Poren, die in der Zellmembran von Nervenzellen sitzen und für die Weiterleitung elektrischer Signale wichtig sind. Auf welche Weise die Kanäle bei einem KCNA2-Gendefekt beeinträchtigt sind, hängt von der genauen Stelle im Gen und der Mutationsart ab. Das erklärt, warum das Medikament auch nicht bei allen Unterformen der Erkrankung wirksam ist. Das Gen wurde 2015 in enger Zusammenarbeit mit Prof. Johannes Lemke von der Universität Leipzig und weiteren europäischen Kollaborationspartnern bei Kindern mit schweren Epilepsien und Entwicklungsstörungen entdeckt. Es gibt zwei unterschiedliche Formen, die durch einen Verlust oder einen Gewinn an Funktion des Kaliumkanals bedingt sind.

„Bei einer Unterform führt die Mutation zu einer gesteigerten Aktivität des Kaliumkanals – wir sprechen auch von einer gain of function-Mutation. Dabei leiden Patienten schon ab dem ersten Lebensjahr unter schweren epileptischen Anfällen, die mit starken Entwicklungsstörungen einhergehen“, erläutert Neurologe und Mitpreisträger Professor Dr. Holger Lerche. Den Betroffenen fällt es schwer zu laufen, sie können sich schlecht konzentrieren und haben Probleme beim Rechnen und Buchstabieren. In ihrem Alltag sind sie stark eingeschränkt. Erste Heilversuche an einzelnen Patienten mit dieser Unterform verliefen erfolgreich, berichtet Lerche: „Nach Verabreichung von 4-Aminopyridin reduzierte sich die Anfallshäufigkeit drastisch. Ebenso verbesserten sich ihre kognitiven, sprachlichen und motorischen Leistungen.“ Nicht wirksam hingegen ist das Arzneimittel bei sogenannten loss of function-Mutationen, bei denen die Aktivität des Kaliumkanals stark eingeschränkt ist. „Hiervon betroffene Patienten leiden jedoch nur unter einer milden mentalen Retardierung mit lokal begrenzten epileptischen Anfällen, die bis zum Jugendalter meist wieder verschwinden. Bei ihnen helfen teilweise auch andere Antiepileptika“, so Lerche.

Aktuell ist der Wirkstoff 4-Aminopyridin nur für die Behandlung der Multiplen Sklerose zugelassen. Bis er für die Standardtherapie von Epilepsien freigegeben wird, die auf KCNA2-Gendefekten beruhen, sind weitere Untersuchungen notwendig. So ist Grundlagenforschung nötig, um etwa zu verstehen, wie die Substanz bei den verschiedenen Unterformen der Erkrankung genau wirkt. Nach weiteren individuellen Heilversuchen planen die Tübinger Wissenschaftler dann eine erste standardisierte Arzneimittelstudie in den nächsten Jahren.

Mit bislang nur rund 30 bekannten Fällen weltweit gehören Epilepsien, die durch KCNA2-Genmutationen verursacht werden, zu den seltenen Erkrankungen. Diese werden auch Waisenkinder der Medizin genannt: Die Entwicklung eines passenden Arzneimittels ist meist zu teuer und deshalb wenig rentabel für Pharmafirmen. Auch ist die Interessensvertretung der wenigen Patienten zu schwach. „Umso mehr freut es uns, wenn wir mit unserer Forschung gerade diesen Patienten helfen können“, so Hedrich-Klimosch. „Wir hoffen, dass wir langfristig noch weitere Patienten behandeln können und dadurch ihre Lebensqualität – und die ihrer Familien – verbessern können.“

Mareike Kardinal

Pressekontakt:

Dr. Mareike Kardinal
Leitung Kommunikation
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Otfried-Müller-Str. 27
72076 Tübingen
Tel: 07071 29-8 88 00
Fax: 07071 29-2 50 04
Mail: mareike.kardinalspam prevention@medizin.uni-tuebingen.de

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