Tübinger Forum für Wissenschaftskulturen
Jahresthema 2022/23: Posthumanismus um 1900/Posthumanism around 1900

Um 1900 treffen viele theoretische und erzählerische Stränge aufeinander, welche die heutigen Vorstellungen vom Posthumanen prägen. Auf der einen Seite könnte Jakob Johann von Uexküll stehen, der in seinem 1909 erschienenen Werk Umwelt und Innenwelt der Tiere Charles Darwin für seinen Anthropozentrismus kritisiert und eine gegenseitige Abhängigkeit oder sogar gegenseitige Aktualisierung von Tier und Umwelt postuliert. Andere wissenschaftliche Konzeptionen wie Feldtheorien sowie System- und Kontrolltheorie bilden sich im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, bündeln sich um 1900 und münden in die Begründung der Kybernetik. Diese Entwicklungen bringen den Drang nach einem neuen Zugang zur menschlichen und nicht-menschlichen Wirklichkeit mit sich, der zur Entstehung der Aktpsychologie Franz Brentanos und der Sinnesphysiologie Ernst Machs führt (die auch die Experimente in der Pariser Salpêtrière beerbt) sowie später in der Phänomenologie gipfelt.

Auf der anderen Seite des Spektrums könnte die zweite industrielle Revolution und später der Erste Weltkrieg stehen, die technologische und philosophische Folgen nach sich zogen, bis hin zum Futurismus mit seiner völligen Missachtung des menschlichen Lebens gegenüber der Zelebrierung der Technik. Von überragender Relevanz ist in diesem Zusammenhang Alfred Döblins 1924 erschienener Roman Berge Meere und Giganten, der nicht nur eine Fülle hybrider Wesen bereithält, sondern auch die Handlungsfähigkeit vom Menschen auf alle Arten von Akteuren wie Tieren, Pflanzen oder Mineralien überträgt.

Unser Ziel ist es, entlang dieser Linien bislang unerkannte Ursprünge von Diskursen aufzuspüren, die wissenschaftliche, künstlerische und literarische Vorstellungen vom Posthumanen präfigurieren.