International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Worüber wir reden – und worüber (bzw. mit wem) wir reden sollten

Kinder und Jugendliche im Corona-Diskurs

Von Dr. Ingrid Stapf und Marco Krüger

19.05.2020 · „Kindergipfel statt Autogipfel“, so die zugespitzte Forderung des deutschen Politikers Dietmar Bartsch. Denn Kinder seien, neben Frauen und Familien, die „Verlierer der Krise“. Seit ein paar Tagen öffnen die Schulen wieder ihre Pforten. Zumindest für die Abschlussklassen soll der Unterricht wieder ermöglicht werden – stehen doch die Prüfungen kurz bevor, oder haben in einigen Bundesländern bereits begonnen. Auch in vielen Kindergärten ist die Notbetreuung leicht ausgeweitet und selbst Spielplätze werden jetzt wieder geöffnet. Kurzum: Kinder stehen, neben dem Neustart der Fußballbundesligen, im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Corona-Diskussion. Bei genauerer Betrachtung scheint dies aber nicht ganz der Fall zu sein. Die Verhandlung von Bedürfnissen, die bei Kindern nicht nur aufgrund unterschiedlicher Altersklassen vielfältig sind, findet in der Öffnungsdebatte wenig Berücksichtigung. Dabei zeichnen sich zwei grundsätzliche Diskurslinien ab. Erstens dreht sich die Debatte um den Umgang mit Bildungsinstitutionen, nicht aber um den Umgang mit Kindern selbst. Zweitens sollen Eltern durch die schrittweise Öffnung der Kindergärten und Grundschulen primär entlastet werden.

Zu oft verharren die Debatten in einer Dichotomie aus Öffnung oder Schließung von Einrichtungen. Was unter welchen Bedingungen für Kinder und Jugendliche gut ist, welche Bedürfnisse sie haben und wie diese abseits einer simplifizierten Öffnungsdebatte befriedigt werden können, spielt in all diesen Diskursen nur eine untergeordnete Rolle. Und was dabei auffällt: Kinder und Jugendliche selbst kommen in all den Debatten kaum zu Wort. Zudem wird ihnen kaum Handlungskompetenz in der aktuellen Situation zugeschrieben. Die Kinderperspektive spielt höchstens mittelbar eine Rolle, etwa bei der Öffnungsdebatte von Kindergärten und Schulen. Den mangelnden Einbezug in die aktuellen Debatte beklagt auch die Bundesschülerkonferenz in ihrer Pressemitteilung vom 14. April 2020: „In dieser bildungspolitischen Ausnahmezeit sind Schülerinnen und Schüler diejenigen, die an erster Stelle stehen müssen, weil die Entscheidungen der Kultusministerkonferenz (KMK) sie deutlich betreffen. Wir fordern deshalb die Einbeziehung der Schülervertreter in diesen Entscheidungsprozess.“

Zwar ist die schrittweise Schulöffnung im Interesse vieler Schüler*innen, da die Schule nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch des sozialen Austauschs ist. Dennoch stehen oft institutionelle Zwänge im Vordergrund, wie Abschlussprüfungen. Den zaghaften Vorstoß, die Abiturprüfung dieses Jahr ausfallen zu lassen, auch um Kindern den Stress von Prüfungen angesichts der ungewissen Zeiten zu nehmen, nahm die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien angesichts des heftigen Protests ihrer Kolleg*innen eilig zurück. Daher wurden Schulen für die ältesten Schüler*innen zuerst geöffnet sowie Prüfungen und Hygienemaßnahmen konzipiert. Bei weitem nicht jeder Schulleitung dürfte dabei klar sein, wie sie das beschlossene Hygienekonzept umsetzen soll und sicher haben nicht alle Lehrer*innen eine genaue Vorstellung davon, wie sie die geteilten Klassen nun in kleineren Gruppen unter Einhaltung der Abstandsgebote bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung von Online-Angeboten sinnvoll unterrichten können. Ganz abgesehen davon, dass es laut einer repräsentativen Befragung der Robert-Bosch-Stiftung großen „Nachholbedarf bei digitalen Lernformaten“ gibt. In Anbetracht dieser vielfältigen Problemstellungen hatte die Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs der Schulöffnung in allen bisherigen Debatten Priorität. Eine aktuelle Studie zu Jugendlichen findet große Belastungen in der Folge der Corona-Maßnahmen. Erstaunlich sei gewesen, so die Sozialforscherin Severine Thomas in der ZEIT, „wie stark ihr Bedürfnis ist, sich mitzuteilen“ und wie es sie verstöre, „dass sie vor allem auf ihre Rollen als Schüler, Abiturienten, Prüflinge reduziert werden, über die grundsätzlich andere sprechen – Eltern, Lehrer, Politiker.“

Noch frappierender zeichnete sich die mangelnde Beachtung der kindlichen Perspektive bei der Frage nach der Öffnung der Kindertagesstätten ab. Ihre pädagogische Bedeutung für Kinder, aber auch ihre Funktion zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie der sprichwörtlichen kindlichen Neugier, dem Erleben sozialer Kontakte und dem (gemeinschaftlichen) Lernen, stand lange hinter der Entlastung von Eltern (insbesondere in als systemrelevant erachteten Berufen) zurück. Die Sicherstellung der frühkindlichen Entwicklung wird nun aber im Öffnungsplan für Kindergärten aufgenommen und von der Jugend- und Familienministerkonferenz in ihrer aktuellen Beschlussfassung aufgegriffen. Erst seit kurzem geht die Debatte über die Kindergärten hinaus und schließt die Öffnung von Spielplätzen ein. Dennoch geht auch diese zweite Diskurslinie eher von infrastrukturellen Faktoren als von konkreten Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Befriedigung aus. Die Sicherstellung der Arbeitskraft der Eltern spielt dabei stets eine entscheidende Rolle. Dabei ist unklar, inwieweit Kinder im Vergleich zu Erwachsenen Gefahr laufen sich anzustecken oder das Virus zu übertragen. Auch deshalb reagieren verschiedene Länder bei der Regulierung höchst unterschiedlich.

Dass vor allem jüngere Kinder zuletzt aus dem Lockdown zurückkehren sollen, kritisiert auch die Soziologin Jutta Allmendinger. Dies hätte Auswirkungen auf die ganze Familie und führe dazu, dass sich vor allem Frauen in traditionellen Rollen wiederfänden. So stellt das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung seiner Online-Umfrage corona-alltag.de fest, dass 16 Prozent der Eltern jetzt weniger arbeiten und dies vor allem Frauen betreffe. Kindliche Bedürfnisse und Interessen sind in der Folge in neuartige Belastungssituationen verstrickt. Gerade Kinder sind von der elterlichen Doppelbelastung zwischen Home-Office und Kinderbetreuung betroffen. Im Idealfall, und das scheint sehr situationsabhängig, können sie auch von der verstärkten Präsenz der Eltern zuhause profitieren, die durch die Kontaktbeschränkungen auch mehr Zeit für sie haben. Allerdings verstärkt sich die bestehende Bildungsungleichheit, wenn Eltern das Homeschooling nicht ausreichend begleiten können, oder die digitale Ausstattung fehlt. Das Deutsche Kinderhilfswerk beklagt, dass der aktuelle Zustand vor allem für Kinder aus sozial und finanziell benachteiligten Familien „auf vielen Ebenen eine Katastrophe“ darstelle, da sich bereits bestehende soziale Ungleichheiten verstärkten. Räumliche Beengtheit, Zukunftsangst und damit gestiegener psychischer Stress bei Erwachsenen führen „quer durch die Gesellschaft“ zu einer Zunahme von Gewalt, zumal auch Ansprechpartner*innen außerhalb der Familie für die betroffenen Kinder fehlten. Bereits Ende März hatten sich einhundert Akademiker*innen zusammengeschlossen, um einen nationalen Krisenstab für mehr Kinderschutz in der Corona-Krise zu fordern, da die Situation für manche Kinder gar „lebensgefährlich“ sei.

Gerade in der Corona-Krise ist es daher wesentlich, Kinder als Akteur*innen mit je eigenen Bedürfnissen, Interessen und Rechten wahrzunehmen, die auch im öffentlichen Diskurs und den Regulierungsmaßnahmen Berücksichtigung finden sollten. Im letzten Jahr hat die UN-Kinderrechtskonvention, als die am breitesten ratifizierte Konvention der Vereinten Nationen, ihr 30-jähriges Jubiläum gefeiert. In diesem völkerrechtlichen Abkommen, das 1992 in der Bundesrepublik ratifiziert wurde und seitdem als einfaches Recht umzusetzen ist, werden Kinder als subjektive Rechtsträger*innen verstanden. In Art. 3 UN-KRK wird das Wohl des Kindes als ein Gesichtspunkt verbrieft, „der vorrangig zu berücksichtigen ist“. Diese Rechte bestehen öffentlichen und privaten Einrichtungen gegenüber.

Die aktuellen Einschränkungen der Freiheitsrechte betreffen, bis auf wenige Ausnahmen, grundsätzlich alle Menschen gleichermaßen. Sie wirken sich allerdings auf Kinder und Jugendliche anders aus. Kinder sind besonders stark auf Interaktion und soziale Einbindung angewiesen, da sie körperliche, geistige und psychische Fähigkeiten erst noch entwickeln. Gerade Kinder in Belastungsfamilien sind den Folgen einer Abschottung, und damit langfristigen Nachteilen, besonders stark ausgesetzt.

Kinder haben verbriefte Rechte auf eine gesunde Entwicklung und Bildung, aber auch auf Freizeit, Meinungsäußerung und Information. Gerade in Krisen sind Freiheitsrechte immer auch gegenüber dem Gemeinwohl abzuwägen. Dabei dürfen die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Gemeinwohldefinition nicht vernachlässigt werden. Gerade jetzt sollten ihre Perspektiven sowie ihr Recht gehört zu werden stärker Berücksichtigung finden. Ein positives Beispiel hierfür ist das Kindernachrichtenprogramm „logo!“, das kindgerechte Informationen zu COVID-19 anbietet und Kinder dabei selbst zu Wort kommen lässt. Wie könnten notwendige gesellschaftliche Maßnahmen, auch die Sichtweisen, Interessen und Bedürfnisse derer berücksichtigen, die besonders verletzlich, aber auch besonders neugierig und offen sind? Der Philosoph Joe Feinberg1 spricht vom Recht des Kindes auf eine offene Zukunft. Die gelingende Ausgestaltung der eigenen Zukunft ist jedoch voraussetzungsvoll. In diesem Sinne gilt es auch die Interessen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu verhandeln – und dies am besten mit ihnen.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/178068

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1 Feinberg, Joel. 1980. A Child ́s Right to an Open Future. In: Aiken, William/LaFollette, Hugh (Eds.), Whose Child? Parental Rights, Parental Authority and State Power. Totowa, NJ: Littlefield, Adams & Co., S. 124–153.