Uni-Tübingen

5 Ausgangsbereich PS+; relevante Schnittstellen PS+/RS+; PS+/RS–; PS–/RS+

5.1 Der Kampf um die Eindeutigkeit in der Politik

Allgemeine Rhetorik mit Latinistik, Linguistik, Psychologie und Rechtswissenschaft

In parlamentarischen Kontroversen, in politischer Propaganda und in politischen Skandalen stehen sich regelmäßig parteiliche Strategien der Verdunkelung und Beschönigung sowie Strategien der Aufklärung und Erhellung gegenüber. Das beispielhafte Dissertationsprojekt steht im Spannungsfeld von strategisch-produktiver Ambiguierung (PS+) und ihres Widerparts, der öffentlich verhandelten Disambiguierung im Sinne des Eindeutigkeitspostulats (RS+). Das Projekt könnte sich der Frage widmen, um welche sprachlichen, textlichen und kommunikativ-interaktionalen Komponenten es im Kampf um Eindeutigkeit in der Politik geht. Einflussfaktoren aus den Bereichen der nicht-strategischen Ambiguität (RS) und (PS) sollen bei der Analyse ebenfalls mitberücksichtigt werden. Damit kann das Projekt einen Beitrag zur Theorie der Eindeutigkeit als Komplementärkonzept zur Ambiguität leisten.

Die Dissertation soll untersuchen, wie im politischen Diskurs das Ziel der Eindeutigkeit durch Ambiguitätsvermeidung verfolgt wird (PS+). Dies ist insbesondere bei der Erstellung von Verträgen und Urteilen der Fall. Der komplementäre Fall in der Rezeption, nämlich die strategische Disambiguierung (RS+), kommt vor allem bei der Interpretation von Texten und Urteilen vor. Die Beteiligten handeln eine gültige Interpretation bzw. Auslegung eines Textes aus.

Der Bereich RS spielt bei der Analyse von politischen Diskursen/Skandalen etc. ebenfalls eine zentrale Rolle, da dort die Dekodierung von Information im Zentrum steht. Das, was ge­sagt wird (Literalbedeutung) muss zu dem in Relation gesetzt werden, was gemeint ist (Inferenzen; Grice 1975). Die zentrale Annahme besteht darin, dass sprachliche Strategien der Verdunkelung durch eine systematische linguistische und rhetorische Analyse aufgedeckt werden können (Bereich RS). Als ein konkretes Beispiel kann die Analyse der sprecherbezogenen Adverbien (z.B. vorsätzlich) und die Verwendung von Modalpartikeln (eben doch mal, leider, etc.) in Reden und Interviews von zu Guttenberg (Guttenberg/di Lorenzo 2011) angeführt werden.

Literatur:

Grice, H. Paul (1975). “Logic and Conversation.” In: Speech Acts: Syntax and Semantics. Hg. Peter Cole und Jerry L. Morgan. New York: Academic Press, 43-58.

Guttenberg, Karl-Theodor zu; Giovanni di Lorenzo (2011). Vorerst gescheitert: Wie Karl-Theodor zu Guttenberg seinen Fall und seine Zukunft sieht. Freiburg: Herder.

5.2 Strategische Produktion von Ambiguität beim Umgang mit Anschuldigungen

Psychologie mit Rechtswissenschaft und Allgemeiner Rhetorik

Zahlreiche Beispiele zeigen, dass Personen und Institutionen auf Anschuldigungen (Dopingverdacht bei Sportlern, fragwürdige Handlungen von Politikern, unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen) in einer Art und Weise Stellung nehmen, die ihnen zu einer „günstigen“ Wahrnehmung und Beurteilung durch einzelne andere oder „die Öffentlichkeit“ verhilft, ohne dabei direkt zu lügen. In Kenntnis der Korrektheit der Anschuldigungen versuchen Beschuldigte in solchen Fällen vielmehr häufig, sich gezielt mehrdeutig zu äußern (PS+). Die psychologische wie auch die Kommunikationsforschung haben sich mit der strategischen Produktion von Ambiguität (d.h. den verbalen, nonverbalen und paraverbalen Aspekten der Kommunikation) noch kaum befasst, wofür sowohl eine Analyse entsprechender Dokumentationen solcher Fälle (qualitative Methode) als auch eine experimentelle Methode, bei der Personen instruiert werden, unter verschiedenen Bedingungen (z.B. bzgl. Motivation, Sachkenntnis etc.) entsprechend zu agieren, geeignet sind. Zur Analyse der produzierten Äußerungen steuert die Rhetorik eine Systematik von Strategien und Techniken bei. Die Rechtswissenschaft kann insbesondere hinsichtlich der Faktoren, die auf Seiten des Empfängers Einfluss auf die Rezeption (RS und RS+) nehmen, einen wichtigen Beitrag leisten. Beispielsweise lie­fert das richterliche Vorgehen bei zivilrechtlichen Verfahren ein Kriterium, wie entsprechende Aussagen der Parteien vor Gericht zu werten sind.

5.3 Ambiguität und Delegation: Rechtsnatur und Reichweite von Delegationsnormen

Rechtswissenschaft mit Allgemeiner Rhetorik und Linguistik/Anglistik

Um ein Gesetzgebungsvorhaben nicht mit ungeklärten oder schwierigen Regelungsfragen zu belasten, greift der Gesetzgeber gelegentlich zu dem Mittel, eine entsprechende Norm so weit zu fassen, dass die konkrete Rechtsetzung letztlich dem Rechtsanwender überlassen bleibt (Delegationsnorm). Dieses Phänomen ist verwandt mit der Generalklausel, da auch dort Mehrdeutigkeit strategisch eingesetzt wird (PS+). Zumeist werden Delegationsnormen allerdings unter dem schillernden und negativ besetzten Begriff der „Lücke“ behandelt. Dagegen spricht schon einfach, dass hier eben nicht ein Regelungsbedürfnis übersehen wurde o. ä., sondern absichtsvoll geregelt wurde, nämlich mehrdeutig. Entsprechend darf dieses Phänomen nicht von vornherein auf die Frage reduziert werden, ob die zur Normanwendung nötige Konkretisierung die Gefahr einer Lockerung rechtsstaatlicher Bindungen des Rechtsanwenders in sich birgt. Vielmehr muss zunächst die Delegationsnorm als ein Fall absichtlicher Mehrdeutigkeit analysiert werden. In dem Dissertationsprojekt ist also zunächst zu klären, wie Delegationsnormen rechtstheoretisch zu fassen sind, wie sie methodisch erkannt werden können, und schließlich wie der Rechtsanwender mit ihnen umgehen soll (RS+).

5.4 Multimodale Formen der Ambiguität im Text

Literaturwissenschaft/Germanistik mit Linguistik/Romanistik und Psychologie; sowie mit den kooptierten Medien- und Kunstwissenschaften

In diesem Dissertationsprojekt geht es um die Ambiguität des literarischen Textes, die medienspezifische Formen hat. Diese sind keineswegs auf sprachliche Formen beschränkt, die mit Hilfe rhetorischer und linguistischer Begriffe erfasst werden können, weil manche For­men nur bildlich in Erscheinung treten. Ein Text ist nämlich „eine über den Satz hinausgehende, abgeschlossene, thematisch gebundene, sinnvolle sprachliche Einheit“ (Fix 2008: 17), aber nur insofern, als sie mündlich oder schriftlich realisiert wird (vgl. Koch/Oesterreicher 2008). Wenn bei der Produktion oder bei der Rezeption eines Textes neben der Sprache auch der „materiell-mediale Objektstatus“ eine Rolle spielt (Kammer/Lüdecke 2005), dann entstehen multimodale Formen der Ambiguität (vgl. Forceville/Urios-Aparisi 2009). Eine solche Systematik multimodaler Ambiguität kann an der Gattung des Lehrstücks entwickelt werden: In einer „Versuchsanordnung“ zur Erforschung menschlichen Verhaltens (Benjamin 1966) verhandeln Lehrstücke Ambiguität auf inhaltlicher Ebene als strategische Form der politischen Kommunikation seitens des Produzenten (Feld PS+) wie des Rezipienten – und auf dieser Seite als Strategie (Feld RS+) wie als Fehler (Feld RS). In ihrer ästhetischen Realisierung sind Lehrstücke in vielen Fällen multimodal, weil sie in den Text theatrale (Rede), visuelle (Bilder) und graphische (Schrift) Medien integrieren: In Heiner Müllers Der Horatier (1968) wird z.B. mit einer bestimmten Form der Textbildlichkeit (vgl. Mitchell 1980) Ambiguität erzeugt.

Literatur:

Benjamin, Walter (1966). Briefe. Hg. Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Fix, Ulla (2008). Texte und Textsorten – sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene. Berlin: Frank und Timme.

Forceville, Charles J.; Eduardo Urios-Aparisi (2009). “Introduction.” In: Multimodal Metaphor. Hg. Charles J. Forceville und Eduardo Urios-Aparisi. Berlin: De Gruyter, 3-17.

Kammer, Stephan; Roger Lüdeke (Hg.) (2005). Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart: Reclam.

Koch, Peter; Wulf Oesterreicher (2008). “Mündlichkeit und Schriftlichkeit von Texten.” In: Textlinguistik: 15 Einführungen. Hg. Nina Janich. Tübingen: Narr, 199-215.

Mitchell, William J. Thomas (1980). “Spatial Form in Literature: Toward a General Theory.” In: Critical Inquiry 6.6, 539-567.