Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2013: Forum

„Generationengerechte Finanzpolitik bedeutet strukturelles Verschuldungsverbot bei gleichzeitigem Re-Investitionsgebot“

Ein Meinungsbeitrag von Professor Dr. Dr. Jörg Tremmel, Juniorprofessor für Generationengerechte Politik an der Universität Tübingen

Die europäische Schuldenkrise ist seit Monaten in den Schlagzeilen in Europa, auch in Deutschland. Mitte April lud das Staatsministerium Baden-Württemberg zum 7. Finanzplatzgipfel ein, Thema in diesem Jahr: „Staatsschulden Deutschland – Herausforderungen für Wirtschaft und Politik“. Auf dem Podium diskutierten dazu Dr. Nils Schmid, stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Finanzen und Wirtschaft Baden-Württemberg, Professor Dr. Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung ZEW und von der Universität Tübingen Professor Dr. Dr. Jörg Tremmel, Juniorprofessor für Generationengerechte Politik am Institut für Politikwissenschaft. Für „Uni Tübingen aktuell“ hat er seine Thesen zusammengefasst.


Generationengerechtigkeit wird heute in der Regel mit Fragen des Umweltschutzes assoziiert. Das war nicht immer so. In Platons Politeia wird „haushälterischer Anstand“ als Paradigma für Gerechtigkeit herangezogen. Und Thomas Jefferson betrachtet die Finanzierung über Staatsanleihen „als gerechtfertigt nur in dem Maße, wie die Schuld innerhalb der Zeitspanne der Mehrzahl der Leben der Generation, die die Schulden aufgenommen hat, getilgt wird.“ Das scheinbar so spröde Thema Finanzpolitik hat eine moralische Komponente, es gehört durchaus in Seminare und Lehrbücher über Politische Ethik, auch wenn Politologen hier eng mit Ökonomen und Juristen zusammenarbeiten müssen.


In Deutschland erreichte der Streit über nachhaltige beziehungsweise generationengerechte Haushaltspolitik vor einigen Jahren seinen Höhepunkt – und einen vorläufigen Abschluss: Im Frühjahr 2009 verabschiedeten Bundestag und Bundesrat mit der Föderalismusreform II weitreichende Änderungen im deutschen Staatsschuldenrecht, deren Herzstück die Verankerung des Grundsatzes eines strukturell ausgeglichenen Haushalts ist – die so genannte Schuldenbremse.


Dies ist aus politikökonomischer Sicht erstaunlich, ja eigentlich unerklärlich. Denn aus einer politökonomischen Perspektive setzen die systemimmanenten Anreizstrukturen der Staatsform Demokratie einen Kreislauf für immer mehr Staatsverschuldung in Gang. Denn Oppositionspolitiker sind in der Demokratie an ihrer Wahl interessiert, Regierungspolitiker an ihrer Wiederwahl. Dies zu behaupten unterstellt nicht, Politikern gehe es nur um Macht, Posten und Privilegien. Auch Politiker, die sinnvolle Sachpolitik gestalten wollen, benötigen dazu Gestaltungsmacht, und die haben sie nur, wenn sie in Ämter gewählt werden. Im Werben um Stimmen muss sich jede Partei auf die gegenwärtige Wählerschaft konzentrieren, und insbesondere auch darauf, welche Spuren das eigene Politikangebot im Geldbeutel dieser gegenwärtigen Wählerschaft hinterlässt. Zugespitzt formuliert: Zukünftige Personen sind heute keine Wähler und können nicht in das Kalkül zur Maximierung von Wählerstimmen in der Gegenwart einbezogen werden.


Während Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen sich oft nur gegen große Widerstände der einzelnen Interessensgruppen durchsetzen lassen, haben Mitglieder künftiger Generationen keine eigene Stimme. Eine Regierung kann deshalb hier ohne Widerstand ihren Ausgaben- und damit Gestaltungsspielraum erhöhen und damit ihre Wiederwahlchancen verbessern.


Das ist keine bloße Theorie. Empirische Untersuchungen, z.B. durch Robert K. von Weizsäcker, zeigen, dass die Neuverschuldung umso höher ausfällt,


Kurzum: Es besteht in Demokratien tendenziell der Anreiz, durch eine übermäßige Staatsverschuldung finanzielle Lasten von der Gegenwart in die Zukunft zu verschieben. Die Zukunft, so betonen Rechnungshöfe und die Mehrheit der Wirtschaftsweisen unisono, hat keine Lobby.


Vor Einführung der Schuldenbremse waren Politiker, die langfristig solide Finanzpolitik anstrebten, im Wettbewerb mit ihren kurzfristig orientierten politischen Gegnern benachteiligt. Die deutsche Schuldenbremse hat die Spielregeln für alle Wahlkämpfer geändert. Was vordergründig wie ein Kompetenzverlust der politischen Klasse aussieht, ist in Wirklichkeit ein Sieg der Nachhaltigkeits-Politiker über die Gegenwarts-Populisten. Manchmal ist Selbstbeschränkung ein Zeichen der politischen Klugheit. Staatsverschuldung muss in einer Demokratie mit freien Wahlen nun einmal anders ge- und verregelt werden als in einem utopischen Staat, in dem politische Ämter durch das Los besetzt werden – ohne Wiederwahlchance.


Ist nun dank der Schuldenbremse alles gut? In der Wissenschaft bleibt eine hartnäckige Minderheit anderer Ansicht. Bis hinauf in den Sachverständigenrat (etwa Professor Dr. Peter Bofinger) und in die Bestsellerlisten der Sachbücher (zum Beispiel Peter Graeber: „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“) reicht die Liste derjenigen, die das Gegenteil behaupten: Nicht nur aus ökonomischen oder juristischen, nein primär aus moralischen Gründen seien die Schuldenbremsen abzulehnen. Im Kern lautet der Vorwurf der Kritiker, dass die gesamte Generationenerbschaft, also die Gesamtheit der von uns an die Nachwelt vererbten Kapitalien (Naturkapital, Sachkapital, Kulturelles Kapital, Sozialkapital usw.) wegen der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kapitalarten durch Schuldenverminderung beeinträchtigt wird. Wer heute Schulden abbaut, so das Argument, der erhöhe die Arbeitslosigkeit, der vernachlässige den Umweltschutz und die Bedürfnisse derjenigen, die heute arm sind. Statt „Sparen für die Zukunft“ finde „Sparen an der Zukunft“ bzw. ein „Kaputtsparen“ statt.


Diese Argumente ziehen offensichtlich in Gemeinwesen mit langfristig konstanter Gesamtverschuldung nicht. Allerdings ist der Übergangsprozess eines ans Schuldenmachen gewöhnten Staates hin zu einer soliden Finanzpolitik tatsächlich schmerzhaft. Die Härten der Anpassung ändern aber nichts daran, dass ein unmoralisches „Leben über die eigenen Verhältnisse“ so bald wie möglich ein Ende haben sollte. Der Schuldenabbau sollte sich dabei auf den heutigen Staatskonsum konzentrieren, nicht auf Investitionen.


Um es auf eine knappe Formel zu bringen: Generationengerechte Finanzpolitik bedeutet strukturelles Verschuldungsverbot bei gleichzeitigem Re-Investitionsgebot. Keine Generation ist verpflichtet, mehr zu investieren als ihre Vorgängergeneration. Aber das gleiche Investitionsniveau ist notwendig – und zwar ohne Verletzung der Schuldenbremse.


Jörg Tremmel


Die Veranstaltung „Finanzplatzgipfel 2013 ist im Internet dokumentiert: http://finanzwoche-stuttgart.de/finanzplatzgipfel.html


Stichwort: Schuldenbremse

Im Frühjahr 2009 beschlossen Bundestag und Bundesrat mit der nötigen Zweidrittelmehrheit, eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern. Für den Bund gilt ab 2016 eine Verschuldungsgrenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Ausnahmen sollen in Notlagen zwar auch nach der neuen Regelung möglich sein, jedoch nur in Verbindung mit verbindlichen Tilgungsplänen. Die Bundesländer dürfen laut Verfassung ab 2020 gar keine neuen Kredite mehr aufnehmen.