Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2024: Forum

Das Tanzen gehört zu uns allen, in jede Kultur

Invited Artist Adrian Turner im Gespräch über Tanz als Menschsein und das sinnliche Wechselspiel zwischen dem Innen und Außen

Seit 2018 lädt die Universität Tübingen international renommierte und innovative Künstlerinnen und Künstler nach Tübingen als „Invited Artist“ ein. Der britische Tänzer, Darsteller und Choreograf Adrian Turner bot den Studierenden in seinem Workshop „Wir sehen, wir hören, wir berühren, wir fühlen – wir bewegen“ neue innere und äußere Perspektiven. Die Ausstellung „Whispering Bodies“ im Museum der Universität Tübingen MUT ist das gemeinsame Resultat.

Herr Turner, was bedeutet Tanz für Sie? 

Tanz ist Menschsein. Bewegung ist Menschsein. Ohne Bewegung würden wir nicht funktionieren. Das Tanzen gehört zu uns allen, in jede Kultur. Es ist die allererste Kunst und eine vielfältige Sprache voller unterschiedlicher Formen. Für mich ist Tanz wie ein Organismus, eine Verkörperung davon ein Mensch zu sein.

Sie sind der fünfte Invited Artist an der Universität Tübingen und haben vom 15. Mai bis 24. Juli 2023 einen Workshop mit 13 Studierenden durchgeführt. Wie ist die Zusammenarbeit entstanden?

2019 wurde ich eingeladen, ein Performance-Stück für eine große Ausstellung über Tanz, Bewegung und Geste zu machen und wie es die bildende Kunst im 21. Jahrhundert beeinflusst hat. Eine Mitarbeiterin der Universität Tübingen hat diese Ausstellung besucht. Im Anschluss haben wir ein spannendes Gespräch geführt, in dem sie mir dann auch vom Invited-Artist-Programm erzählt hat. Wir blieben in Kontakt und dann hat sie mich gefragt, ob ich nicht ein Konzept hätte und mich damit bewerben wolle. Tatsächlich hatte ich eine passende Idee. Schon 2016 notierte ich den Gedanken: “We see – we touch – we look – we feel”. Ich schreibe immer mal wieder etwas nieder, für mich, und ich weiß, irgendwann einmal wird es etwas.

Worum geht es in Ihrem Konzept für Ihren Workshop?

Mich fasziniert das Wechselspiel zwischen dem Innen und dem Außen und wie wir Menschen über unsere Sinne miteinander und aufeinander reagieren. Das war der Ursprung meines Konzeptes. Mit diesem Workshop wollte ich die Studierenden sensibilisieren für das Hören, das Sehen, das Spüren und Fühlen. Für das Bewegen. Denn unsere Bewegungen kommen aus unseren Sinnen, unserer Wahrnehmung. 

Als Tänzer, als Choreograf und als Vermittler bin ich ständig am Beobachten. In meiner Arbeit geht es um das Menschsein, das „Mit-sich-selber-Sein“. Wenn man noch nie eine Berührung mit Tanz als Kunstform gehabt hat, denken viele, dass es äußerst kompliziert ist, oder scheinbar äußerst kompliziert. Plötzlich geht es darum sich zu zeigen, und das kann Angst machen. Viele Menschen sind sehr kritisch mit sich selbst und ihrer Selbstdarstellung. Ich wollte also mit den Studierenden herausfinden, was sie finden, wenn sie nach innen gehen. Was ist da in ihnen? Erst wenn sie diesen Ort in sich gefunden haben, wo sie sich wohlfühlen, können sie sich öffnen. Wenn man in die eigene Kreativität reingehen möchte, muss man sich wirklich öffnen. Und beobachten. Und zuhören. Und spüren. Und sehen. Das haben wir gemacht. 

Weder kannten sich die Studierenden untereinander, noch kannten Sie die Gruppe. Wie haben Sie es geschafft, gemeinsam Vertrauen aufzubauen?

An dem Montag, diesem heiligen Montagmorgen, war ich sicherlich genauso aufgeregt wie die Studierenden. 13 verschiedene Persönlichkeiten aus 13 verschiedenen Studiengängen. In meiner Karriere habe ich bereits mit allen möglichen Typen Mensch in unterschiedlichsten Institutionen gearbeitet, aber noch nie an einer Universität. Am ersten Tag haben wir uns zusammen auf den Boden gesetzt und erst mal ein bisschen ein Schwätzchen miteinander gehalten. Ich habe von mir erzählt, von meiner Person, meiner Persönlichkeit, wo ich herkomme, meinem kulturellen Background, all diese Aspekte. Und dann wollte ich natürlich alles über jede und jeden wissen. Ich habe zu ihnen gesagt: „Wir müssen versuchen uns zu verbinden – auf eine Art und Weise.“ Und das haben wir gemacht. An diesem ersten Tag war die Atmosphäre, auf Englisch würde ich sagen „extremely vibrant“. Es war wirklich voller guter Laune, voller Farbe und voller Positivität. Man hat die Energie förmlich gespürt.

Dann haben wir angefangen zu arbeiten. Für mich beginnt es immer mit unserer Haltung und dann damit, wie wir uns verhalten. Wie wir zu etwas stehen, wie wir uns äußern, das ist über unsere Haltung lesbar. Ich beginne mit meiner „Forschungslesungsreise“ durch die Menschen: Oh, da muss ich aufpassen, da – ich sehe die krumme Haltung oder den Brustkorb, der zu ist, und und und... Und dann muss man natürlich eine Sprache entwickeln, die passend ist für die einzelne Person. Es gelingt mir nicht immer, aber ich versuche es. 

In der nächsten Phase ging es dann für die Studierenden darum, den Weg nach innen zu finden. Wir haben mit verbundenen Augen gearbeitet oder mit Ohrstöpseln. Die Studierenden sollten keine Musik hören, sondern nur nach innen lauschen. Das hat fantastisch funktioniert. Zeitweise haben die Studierenden 15 Minuten ohne Pause getanzt. Über die Wochen haben wir uns immer mehr zu einer Gruppe verbunden und haben die Choreografie erarbeitet. Angefangen haben wir mit einem choreografischen Muster, von mir vorgegeben – als Warm-up. Die Studierenden haben etwas über Anatomie gelernt, über Techniken, über Atmung und über Bewegungsflüsse, Gewichtsprozesse und so weiter. Gemeinsam haben wir ein Bewegungsvokabular erschaffen. Im Laufe des Workshops habe ich dann die Fotos produziert und wir haben an zwei Tagen die Videos gedreht. 

Die Ausstellung „Whispering Bodies“ im MUT ist das Ergebnis unseres Workshops und ist ein richtiges Kunstwerk geworden. Ich bin schon ein bisschen stolz drauf, weil ich finde, dass es sehr schön geworden ist.

Die Atmosphäre in der Ausstellung zieht die Besucher*innen förmlich aus dem Alltag: Dunkle Stoffbahnen isolieren von der Umgebung, die Bilder sind reduziert in schwarz-weiß, eine Soundscape mit flüsternden Stimmen. Wie haben Sie die Ausstellung konzipiert?

Der Szenograf Stephan Potengowski und ich wollten eine installationsartige Ausstellung gestalten. Wir wollten die Besucher und Besucherinnen wie in einer Muschel vom Innen ins Außen führen. Genau wie die Arbeit in meinem Workshop mit den Studierenden. Haben Sie die Bildschirme angefasst?

Darf ich das als Besucherin?

Unbedingt! Die sind aus Latex! Sie können Ihre Hand da richtig reindrücken. Das ist ein ganz schönes Gefühl. So wie die Studierenden mit ihren Sinnen gearbeitet haben, sollen die Besucherinnen und Besucher auch über ihre Sinne unsere Ausstellung wahrnehmen. 

Die Soundscape mit dem Flüstern – das sind persönliche Geschichten der Studierenden. Wunderschöne, wahnsinnig sensible Momente, die immer wieder gebrochen werden. Diese Unterbrechungen lassen uns stolpern und werden von kleinen Augenblicken der Stille erlöst. Und plötzlich sehen Sie die Bilder mit anderen Augen. Probieren Sie es aus!

Das Interview führte Inga van Gessel.

Sonderausstellung „Whispering Bodies“

Die Sonderausstellung „Whispering Bodies“ läuft noch bis zum 14. April 2024 im Museum der Universität Tübingen MUT.

Weitere Informationen auf der Ausstellungswebseite