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23.06.2023

Evamarie Sander: Hosen nur bei der Gartenarbeit

Die erste Professorin der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät starb kurz vor ihrem 95. Geburtstag. Ein Nachruf von Helga Aberle

Evamarie Sanders Schüler finanzierten dieses Porträt der Künstlerin Susanne Höfler, das Sander in der Amtskleidung der Tübinger Professorenschaft zeigt und seit 2005 in der Galerie im Kleinen Senat hängt.

Am 5. April 2023 starb Professorin Evamarie Sander PhD, kurz vor ihrem 95. Geburtstag. Geboren am 27. Juli 1928 in Köln, wuchs Evamarie Sander in einer gut bürgerlichen Familie auf. Während ihrer Kindheit vermittelten ihr die Eltern christliche Werte und den Sinn für Familientradition. Diese frühe Prägung zeichnete sie lebenslang aus. Mit neun Jahren mussten sie und ihr fünf Jahre jüngerer Bruder den frühen Tod der Mutter verschmerzen.

Nach dem Abitur machte Sander bis 1948 eine Ausbildung zur staatlich geprüften Landwirtschafts-Gehilfin. Ein Studium an der Universität Bonn schloss sie 1952 als Diplom-Landwirt ab. Ihr Masterstudium an der Ohio State University (USA) beendete sie 1955 als Master of Science in Phytopathologie. Den Doktortitel in Phytopathologie und -virologie erwarb sie 1958 an der Cornell University (Ithaca, New York). Nach zwei Jahren Virus-Forschung in Cambridge (England) kehrte sie nach Deutschland zurück – mit dem Ziel, an einer Universität Virologie als eigenständiges Fach zu etablieren. Ein Novum in Deutschland.

Mit großem Ziel nach Tübingen

Wegen der Nähe zur Universität bewarb sich Sander am Max-Planck-Institut für Virusforschung in Tübingen (MPI) und bekam eine Anstellung bei Prof. Gerhard Schramm. 1968 wurde Sander beauftragt, im Rahmen der Mikrobiologie die Fächer Phytopathologie und Virologie zu lehren, später bot ihr die Universität eine wissenschaftliche Assistentenstelle an. 1969 wurde Sanders Habilitationsschrift von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät angenommen, 1970 erhielt sie die venia legendi für Phytopathologie und den Auftrag, Virologie als selbstständiges Fach zu lehren. Das Ziel war erreicht. Für viele Studenten war dieses Lehrangebot der Grund, in Tübingen zu studieren.

Mitgründerin des Zonta Clubs

Neben aller Forschung und Lehre realisierte Sander ein weiteres Vorhaben: Als junge Frau allein in Amerika war sie sehr dankbar für die Aufnahme in einem Zonta-Club-Haus gewesen. Sie war begeistert davon, wie sich berufstätige Frauen in verantwortungsvollen Positionen weltweit dafür engagierten, die Lebenssituation von Frauen zu verbessern. So gründete Sander 1970 mit Gleichgesinnten den Zonta Club Tübingen.
Zeitgleich schrieb Sander an der Universität Frauen-Geschichte. Die anfangs häufigen Affronts ihrer männlichen Kollegen wie etwa die Anrede „Herr Sander“ konnte sie mild lächelnd aushalten. Denn mit der Bereitschaft, eine Frau in den Kollegenkreis aufzunehmen, sei die männliche Professorenschaft doch schon weit über den eigenen Schatten gesprungen. Sander schwang nicht die Fahne des Feminismus, sie überzeugte mit dem ihr eigenen damenhaften Auftreten. Sie betonte immer, wenn auch dezent, ihre Weiblichkeit. So war sie stets gekleidet mit Rock, Kleid oder Kostüm, geschmückt mit Halskette und kleiner Brosche. „Hier auf dem Campus laufen genug Hosen herum“, sagte sie, „deshalb trage ich Hosen nur zuhause bei der Gartenarbeit.“

Eine Professorin war seinerzeit auch für Studierende ungewohnt: Obwohl ihre erste Vorlesung mit vollem Namen „Evamarie Sander“ angekündigt war, blieb der Hörsaal leer, während draußen Unmutsäußerungen zu hören waren. Sander fragte nach dem Grund des Ärgers. „Ein Dozent Sander hat eine Vorlesung angekündigt und jetzt kommt er nicht!“ Sander: „Können Sie sich vorstellen, dass eine Dozentin die Vorlesung angekündigt hat? Evamarie ist doch ein weiblicher Vorname – und ich bin da.“

Schwerpunkt ihrer Forschung war die Entwicklung von Nachweismethoden für schädliche Viren und Bakterien in Pflanzen, besonders in solchen, die als Pflanzgut oder Saatgut in die Natur ausgebracht werden wie Kartoffeln, Veredelungsreiser oder Setzlinge von Waldbäumen. Ihre publizierten Ergebnisse fanden auch international Beachtung. Deshalb wurde Sander immer wieder um Rat gefragt, wie Anpflanzungen von Nutzpflanzen von Virusbefall zu befreien seien. Diese Expertisen führten sie – in den Semesterferien – zu den Orchideen in Singapur, zum Reis in China, Thailand und den Philippinen, zu Kokos- und Ölpalmen in Malaysia, zu Hopfen und Reis in Japan, in die Tee-Gärten von Java, zum Vanille-Anbau auf Bali oder zu Hirse, Weizen und Bohnen in Simbabwe und Botswana. Wenn ihr das Eingepferchtsein in Verpflichtungen und das Durchhalten trotz mancher Widrigkeiten zu viel zu werden drohten, brach Evamarie Sander aus. In den Tübinger Jazz-Keller, wo sie mit ihrem Kostüm vielen bekannt und immer herzlich willkommen war.

Viren oder Geigenbau

Die venia legendi war für Sander Verpflichtung, den Studenten das Handwerkszeug der wissenschaftlichen Arbeit zu vermitteln: „Einerlei, ob über Viren, Geigenbau oder den Mann im Mond zu forschen ist.“ In 25 Jahren Lehrtätigkeit betreute Sander 94 Diplomanden, 41 Doktoranden und einen Habilitanden. Dabei lernten ihre Schüler nicht nur zu forschen. Sie arbeiteten in einem Labor, in dem kultivierte Umgangsformen gepflegt wurden. Mit ihrem damenhaften Auftreten und ihrer zielstrebigen Beharrlichkeit wurde Sander für viele Vorbild und Ideal.

Als Emerita kaufte sich Sander ein Saxophon, vergnügte sich beim Stepptanz und genoss die Natur im Schönbuch. Als die Füße nicht mehr so weit trugen, lief sie jeden Morgen die Straße vor ihrem Haus in Unterjesingen auf und ab – irgendwann auch mit Rollator. Nach einem Wirbelbruch 2017 war Sander auf eine ständige Hilfe angewiesen. Auch wenn sie in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt war, erlebten ihre Besucher sie bis zuletzt aufrecht sitzend und sorgfältig gekleidet, wie immer mit Halskette. Geistig hellwach arbeitete Sander mit der ihr eigenen Disziplin ständig an ihrem Vermächtnis.

Schenkung an die Universität

Nach dem Soldatentod ihres Verlobten heiratete Evamarie Sander nicht. Ihr Bruder starb jung – ebenfalls unverheiratet. Es gibt keine Nachfahren. Ein Wort des Vaters: „Die Güte einer Kette erkennt man am Verschluss.“ Evamarie war das letzte Glied der Familie Sander, deren Stammbaum sich lückenlos bis 1682 zurückverfolgen lässt. In ihrem Haus gab sie allem Hab und Gut Platz, das von dem über Generationen tradierten Familienbesitz erhalten war. Einer Anregung von Adolf Theis (Universitätspräsident 1972–1995) folgend schenkt sie „die Sammlung kulturtragender Gegenstände und Schriften aus der Lebens-, Wohn- und Haushaltskultur einer bürgerlichen Familie seit 1738 bis in die Gegenwart“ der Uni Tübingen als Lehr-, Forschungs- und Schausammlung. Erschließung und Erhaltung sollen über eine vorbereitete Stiftung finanziert werden.

Bei aller Etikette verstand es Evamarie Sander, jede förmliche Feierlichkeit beschwingt ausklingen zu lassen – mit „The Entertainer“ von Scott Joplin: bei ihrer Verabschiedung 1993 und ebenfalls im Kleinen Senat, nachdem dort ihr Porträt in der Professorengalerie enthüllt worden war. Auch am Ende der von ihr selbst konzipierten Trauerfeier in der Stiftskirche spielte die Organistin am Flügel „The Entertainer“: zum Abschied ein herzliches Augenzwinkern dieser außergewöhnlichen Frau. 

Helga Aberle, Sander-Schülerin

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