Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft

Jugendguides-Qualifizerung

Gefördert von Der Landkreis Tübingen und KulturGUT e.V. entwickelten die Qualifizierung von Jugendguides seit 2012 im Kontext mehrerer Fachtagungen und Seminarveranstaltungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen.  
Projektlaufzeit seit 2012  
Leitung Dr. Wolfgang Sannwald  
Website Jugendguides  

Das Projekt „Qualifizierung von Jugendguides“ bietet Anschluss für kulturwissenschaftliches Forschen und für Studienerfahrungen mit gesellschaftsrelevanter Praxis. Der Landkreis Tübingen und KulturGUT e.V. entwickelten die Qualifizierung von Jugendguides seit 2012 im Kontext mehrerer Fachtagungen und Seminarveranstaltungen des Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Das Projekt transferiert kulturwissenschaftliche Forschung zur Erinnerungskultur, historische Forschung zu NS-Verbrechen vor Ort und erziehungswissenschaftliche Forschung zur Jugendmotivation in gesellschaftliche Wirksamkeit. Aus ihm entwickelte sich eine seit 2012 jährlich durchgeführte gesellschaftliche Praxis im Landkreis Tübingen und in Baden-Württemberg. Die Jugendguides-Qualifizierung hält an und sie stellt sich selbst regelmäßig wissenschaftlich in Frage, entwickelt sich weiter.

Wissenschaftliche Fundierung des Jugendguides-Qualifizierung

Die Vorgeschichte dieser Jugendguides-Qualifizierung reicht bis 2004 zurück. Bei der Tagung „Wechsel der Welten“ 2004 untersuchten wir in einer gemeinsamen Fachtagung mit dem Institut für Erziehungswissenschaft „[d]ie Bedeutung von Museen für Kinder, Jugendliche und Familien“. Im Jahr darauf folgte „Welten erschließen im Museum“. Diese Tagung nahm „Museen als Bildungsorte für Kinder und Jugendliche“ in den Blick. Der Erinnerungskultur und Jugendlichen im engeren Sinn wandten wir uns 2008 mit der Tagung „Erinnerungskultur und Bildungslandschaft“ zu. Weitere Schritte der wissenschaftlichen Erschließung waren das Seminar „Orte und Landschaften europäischen Judentums: Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik vor Ort“ 2010 und die Tagung „Gedenken 21 – Pflicht und Freiheit des Erinnerns“ im selben Jahr. 2013 folgte die Tagung „Jugendbildung und NS-Verbrechen vor Ort“. Vom 3. bis 8. November 2021 weitete die online als „Recherchewerkstatt“ durchgeführte Tagung „Jugendengagement in der Erinnerungskultur international“ den Blick. Vertreter*innen aus Gedenkeinrichtungen in der gesamten Bundesrepublik, aus Oswiencim/Auschwitz, von der Gedenkstätte Terezin/Theresienstadt, von Post Bellum Prag und vom Johancentrum der Universität Pilsen stellten sich zweistündigen Interviews, die Studierende auswerteten und zusammenführten.


Bei den Tagungen und im Lauf der Forschungsseminare seit 2008 waren disparate erinnerungskulturelle Entwicklungen sichtbar: 1. Viele Gedenkstätten befanden sich bereits damals in einem Umbruch, weil es immer weniger Zeitzeugen für NS-Verbrechen gibt. 2. Viele eher kleine Gedenkstätten beklagten sich über nachlassende Besuche überhaupt und insbesondere von Schulklassen. 3. Gegenüber den Klagen kleinerer Gedenkstätten über nachlassende Besuche zeichnete sich ein Zuwachs von Schulklassenbesuchen in überregionalen Gedenkeinrichtungen ab, etwa der KZ-Gedenkstätte Dachau, aber auch der regionalen Gedenkstätte Grafeneck. 4. Lehrende an Schulen klagten über fehlendes Interesse Jugendlicher am Thema. 5. Befragungen Jugendlicher wiesen demgegenüber auf deren Interesse am Thema und darauf hin, dass die Schule dieses nicht befriedige. Aus den disparaten Beobachtungen ergab sich unter anderem eine Frage: Nimmt die Motivation von Schüler*innen für das Erinnern an NS-Verbrechen ab, wenn sie es als Unterrichtsstoff reproduzieren sollen?

Zwischen Position und Reproduktion

Auf der Basis der vor allem kulturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Analyse erarbeiteten das Kreisarchiv und das Kreisjugendreferat des Landkreises Tübingen seit 2010 die Jugendguides-Qualifizierung als Form der Offenen Jugendarbeit.
Das Ziel dieser Qualifizierung unterscheidet sich von dem der Schule oder von dem vieler Gedenkeinrichtungen. Wer in die Schule geht, muss die Kapitel der Erinnerungskultur aus Lehrbüchern in Klassenarbeiten wiedergeben können. Wenn Jugendliche in Gedenkstätten mitarbeiten, sollen sie das von der Gründungsgeneration erarbeitete Wissen weitertragen. Bei der Qualifizierung von Jugendguides geht es zuerst um deren Eigenmotivation. Die 15- bis 23-Jährigen, die teilnehmen, investieren aus eigenem Interesse 40 Stunden ihrer außerschulischen Freizeit. Innerhalb der 40 Qualifizierungsstunden können Jugendliche und junge Erwachsene zunächst viele eigene Interessen zum Thema verfolgen und dazu eigene Positionen formulieren. Während der gesamten Qualifizierung reagiert das Leitungsteam laufend darauf, wie sich diese Positionen entwickeln. Es stützt sich dabei auf Forschungstagebücher, verschriftlichte Ergebnisse von Kleingruppenarbeiten, Resonanz aus der gesamten Gruppe und teilnehmende Beobachtung.  
Wie offen die Jugendguides-Qualifizierung für die Eigenmotivation der Jugendlichen ist, veranschaulicht das Zeitbudget der Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof. Diese steht am Beginn jedes Jahrgangs der Jugendguides-Qualifizierung. An drei Tagen sind insgesamt etwa 16 Qualifizierungsstunden gestaltbar. Sechs davon sind für Feedback und Gruppenprozesse vorgesehen. Nur etwa zwei Stunden gibt es fachlichen Input. Zeitzeugen aus der Gedenkarbeit sind etwa eine Stunde lang für Gespräche dabei. Etwa drei Stunden lang erarbeiten sich die Jugendlichen historische Informationen individuell oder in Expertengruppen. Dabei liegt der Schwerpunkt darauf, dass die Jugendguides mit historischen Quellen umgehen, diese beschreiben und ihre eigenen Erkenntnisse zu einzelnen Quellen formulieren. Wer eine einzelne Quelle intensiv beschreibt, braucht sich nicht an generellen Thesen oder Forschungsnarrativen abzuarbeiten. Fünf Stunden haben Jugendliche Zeit, nach dem Peer-to-Peer-Prinzip wechselseitig ihre erarbeiteten Inhalte in Besichtigungsgruppen zu präsentieren und sich Resonanz abzuholen.
Ein wesentlicher Motivator ist die öffentliche Wirksamkeit. Bereits während der Qualifizierung beteiligen sich die Jugendguides am öffentlichen erinnerungskulturellen Diskurs. Dafür erhalten sie grundlegendes Know-how: Sie formulieren intern authentische Aussagen zu ihren Wahrnehmungen, erproben eine angemessene Rhetorik, befassen sich mit Gruppenprozessen. Und sie erhalten konkrete historische Informationen in Form einzelner Quellen. KulturGUT und der Landkreis schaffen dann etwa 20 bis 30 Anlässe pro Jahr für die öffentliche Wirksamkeit der Jugendguides. Vor den ersten öffentlichen Auftritten befassen sich die Teilnehmenden in einem sechsstündigen Workshop mit archivalischen Quellen und erarbeiten Inhalte, die sie für interessant halten. Noch am selben Tag leiten sie öffentliche Stadtgänge „[a]uf den Spuren der Stolpersteine“, zur „Universität im Nationalsozialismus“ oder zu „Erbgesundheit und Euthanasie-Morden“. Bei Stolpersteinen, an authentischen Orten, Plätzen oder Gebäuden bringen sie dann das Thema NS-Verbrechen vor Ort anhand historischer Quellen narrativ zum Vorschein. Sie befassen sich dabei mit ihrer eigenen Lebenswelt.
Der Landkreis Tübingen, KulturGUT, das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, das Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen und die Geschwister-Scholl-Schule Tübingen arbeiteten über Jahre hinweg in Seminaren, Workshops und Tagungen am Projekt Qualifizierung von Jugendguides. In den zehn Jahren 2012 bis 2021 investierten 209 Jugendliche außerschulisch jeweils mindestens 40 Qualifizierungsstunden innerhalb eines Jahres. Es nahmen 122 junge Frauen und 87 junge Männer teil, 136 waren zum Zeitpunkt der Qualifizierung jünger als 18. Hinzu kamen in den drei Jahren 2017 bis 2019 31 Jugendliche der polnischen Zespół Szkół w Krzepicach, die sich Teilen der Qualifizierung im Rahmen eines Austausches anschlossen. Seit 2018 können Studierende der Empirischen Kulturwissenschaft die Qualifizierung als Kurs belegen. Der Landkreis Tübingen finanziert dieses Public Engineering von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr. Schulische Akteur*innen beteiligten sich von Anfang an an der Entwicklung der Jugendguides-Qualifizierung. Vor allem die Geschwister-Scholl-Schule Tübingen entwickelte Formen, diese ursprünglich außerschulische Qualifizierung für den Unterricht nutzbar zu machen. Insofern bietet das Projekt auch Anschluss an den Transfer wissenschaftlichen Forschens zur Erinnerungskultur in das schulische Umfeld.