Uni-Tübingen

4 Ausgangsbereich PS–

Forschungsziel ist es, die Annahme eines Wettstreits zwischen Sprecher- und Hörerökonomie (siehe 3.2) zu untersuchen und zu spezifizieren.

Das Konzept der Sprecherökonomie ist direkt in den Feldern PS und PS+ verankert, da es dabei um nicht-strategische oder strategische Formen der Produktion geht. Hierbei steht das Prinzip der Kürze und Effektivität im Vordergrund. Das Konzept der Hörerökonomie ist unmittelbar mit dem Feld RS verknüpft. Die Annahme besteht darin, dass Sprecherökonomie und Hörerökonomie wechselseitig aufeinander bezogen sind. Daraus ist abzuleiten, dass sich z.B. der Verarbeitungsaufwand hörerseitig erhöht, wenn der Sprecher Prinzipien wie „be brief“ einsetzt. Ein prototypischer Fall ist das Gedicht.

 

4.1. Sprachliche Ökonomie in der Alltagskommunikation

Linguistik/Anglistik mit Literaturwissenschaft, Psychologie und Allgemeiner Rhetorik

Das Konzept der Sprachökonomie, verstanden als „Ursache bzw. Anlaß für die Tendenz, mit einem Minimum an sprachlichem Aufwand ein Maximum an sprachlicher Effektivität zu erzielen“ (Bußmann 1990: 711), wird neben der Erklärung von Sprachwandelphänomenen (Jespersen 1924) und dem ökonomischen Aufbau der unterschiedlichen Bereiche der Gram­matik (Ökonomie der Komponenten und der Inventare) auch herangezogen, um die Effektivität der Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer zu beschreiben (Levinson 1983; Horn 1993). Zipf (1949) hat bereits vorgeschlagen, die zentralen Prozesse der Sprache durch den Wettstreit zwischen dem „principle of least effort“ (Sprecherökonomie) und dem „antiambiguity principle“ (Hörerökonomie) zu erklären. Die Grundidee besteht darin, dass Ambiguität an den Reibungspunkten dieser gegenläufigen Tendenzen entsteht. In einem Dissertationsprojekt sollen anhand unterschiedlicher Texte die spezifischen sprachlichen Mittel untersucht werden, die Sprecherökonomie kennzeichnen und potenziell Ambiguität bei der Interpretation auslösen können. Hierbei stehen Phänomene der syntaktischen Vereinfachung durch Verkürzung, wie elliptische Ausdrücke „den Hammer“ (für „gib mir bitte den Hammer“ oder „nimm doch den Hammer“; z.B. Klein 1993), aber auch andere Phänomene der Reduktion, wie z.B. sekundäre Prädikationen und reduzierte Relativsätze „they found the river navigable“ (Winkler 1997), sowie Koordination und Apokoinou-Konstruktionen wie „there’s a woman urgently wants to see you“ im Zentrum der Untersuchung. Komplementär dazu sollen die hörerseitigen Prinzipien der Sprachverarbeitung und allgemeinkognitiven Prinzipien untersucht werden, die zur Auflösung von Ambiguität zur Verfügung stehen. Hierbei handelt es sich insbesondere um Kontext und spezifische Mittel der prosodischen Differenzierung (Lang 2010; Lang/Pheby 2011). Diese Ökonomisierungstendenzen werden in dem Schnittstellenbereich zwischen Linguistik und Literatur (3.3.1.1.b) sowie Psycholinguistik, Psychologie und Rhetorik anhand ausgewählter thematischer Gegenstandsbereiche untersucht. Hier ist zum Beispiel an die prosodische (Dis-)Ambiguierung in gesprochenen Texten (z.B. Reusch 2008), die intendierte Ambiguität in der Kommunikation (Werbesprache) oder in Monologen (z.B. die Rede Marc Antonys in Shakespeares Julius Caesar) sowie die Entwicklung von Ambiguitätserkennungsstrategien im Spracherwerb (vgl. Tracy 2005) gedacht.

Literatur:

Bußmann, Hadumod (Hg.) (1990). “Sprachökonomie.” In: Lexikon der Sprachwissenschaft. 2.,überarb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 711.

Horn, Laurence R. (1993). “Economy and Redundancy in a Dualistic Model of Natural Language.” In: SKY – Yearbook of the Linguistic Association of Finland 1993, 33-72.

Jespersen, Otto (1924). The Philosophy of Grammar. London: George Allen and Unwin.

Klein, Wolfgang (1993). “Ellipse.” In: Syntax: Ein internationales Handbuch zeitgenössicher Forschung / An International Handbook of Contemporary Research. 1. Halbbd. Hg. Joachim Jacobs, Arnim von Stechow, Wolfgang Sternefeld und Theo Vennemann. Berlin: De Gruyter, 763-799.

Lang, Ewald (2010). “Der Ton macht den Sinn: Prosodische Differenzierungen bei syntaktischer Indifferenz als Lehrstoff.” In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158, 172-188.

Lang, Ewald; Pheby, Barbara (2011). “Intonation und Interpretation von Satzverknüpfungen in literarischen Hörbuchtexten.” In: Satzverknüpfungen: Zur Interaktion von Form, Bedeutung und Diskursfunktion. Hg. Eva Breindl, Gisella Ferraresi und Anna Volodina. Berlin: De Gruyter, 297-326.

Levinson, Stephen C. (1983). Pragmatics. Cambridge, MA: Cambridge University Press.

Reusch, Stefan (2008). “Kraftfrisuren können.” In: Feine Ablese: Textflüsse und Duologe. Ismael Fischmord und Stefan Reusch. Münster: Monsenstein und Vannerdat, 40-43.

Tracy, Rosemarie (2005). “Spracherwerb bei vier- bis achtjährigen Kindern.” In: Bildung 4 - 8-jähriger Kinder. Hg. Titus Guldimann und Bernhard Hauser. Münster: Waxmann, 59- 75.

Winkler, Susanne (1997). Focus and Secondary Predication. Berlin: De Gruyter.

4.2. Poetic Economy

Literaturwissenschaft/Anglistik mit Linguistik/Anglistik und Neutestamentlicher Wissenschaft

Das Prinzip der Ökonomie ist ein Topos in der poetologischen Tradition; es manifestiert sich z.B. in der Poetik Sidneys in der Formulierung „one word cannot be lost but the whole work fails“ (Sidney 1595/2002, 101). Dies impliziert die Vorstellung einer Funktionalität aller Bestandteile ei­nes Werkes, die mit der o.g. Annahme in Verbindung zu bringen ist. Es ist dabei vor allem zu untersuchen, wie durch eine gezielte Verknappung oder Ausschmückung Ambiguität herbeigeführt werden kann, und ob diese Mehrdeutigkeit nicht ihrerseits einer Ba­lance zwischen verschiedenen Ökonomisierungsstrategien bedarf. So soll im Rahmen ei­ner Dissertation anhand von Analysen ausgewählter englisch­sprachiger (lyrischer) Texte er­forscht werden, inwieweit Redundanzen und Devianzen zu (unerwünschter) Ambiguität bei­tragen bzw. inwieweit (strategische) Ambiguität ebenfalls auf einem Prinzip der Ökono­mie beruht. Dabei kann gerade die Verletzung oder Aufhebung ökonomischer Prinzipien (vgl. Matala de Mazza 2003) auf einer anderen Ebene (z.B. im Hinblick auf erzielte Wirkungen) ökonomisch sein. Neben der engen Verbindung mit der Linguistik (siehe 3.4.1.1.a) bietet sich als weiterer interdisziplinärer Bezugsbereich die Theologie an, weil sich dort Ähnlichkeiten mit einem für literarische Texte grundlegenden strategischen Problem finden: Wie kann es gelingen, „mehr“ zu sagen als in einem rein alltagsweltlichen Informationszusammenhang, ohne doch gleich­zeitig in bloße Vagheit abzugleiten? Ein Beispiel dafür sind intertextuelle Bezüge und Anspielungen. Diese können Kontexte evozieren, welche nicht ausbuchstabiert zu wer­den brauchen, um als Teil der Bedeutung einer literarischen Äußerung erkannt zu werden.

Literatur:

Matala de Mazza, Ethel (2003). “Versprechen, Verneinen: Aufgehobene Zeichenökonomie und Gabe der Gerechtigkeit in Mozarts Don Giovanni.” In: Die Medien der Künste: Beiträge zur Theorie des Darstellens. Hg. Dieter Mersch. München: Fink. 227-50.

Sidney, Philip (1595; 2002). An Apology for Poetry (or The Defence of Poesy). Hg. Geoffrey Shepherd und Robert W. Maslen. 3., überarb. Aufl. Manchester: Manchester University Press.

4.3. Der Einfluss der Ambiguität literarischer Inhalte auf Leser

Psychologie mit Literaturwissenschaft und Linguistik

In diesem möglichen Dissertationsvorhaben soll die psychologische Einstellungsforschung mit der Literaturwissenschaft im Hinblick auf die Bewertung literarischer fiktionaler Texte, deren Inhalte und Eigenschaften zusammengebracht werden. Die Arbeitshypothese ist dabei, dass die Ambiguität literarischer Texte (PS und PS+) für ihre Bewertung eine zentrale Rolle spielt. Damit schließt das Projekt an neuere Forschungen zum Einfluss sprachlicher Strukturen auf die Bewertung literarischer Texte an (Hunston/Thompson 1999; Peer 2008), verbindet jedoch die Textanalyse mit der psychologischen Erforschung von Faktoren, die Einfluss auf die Bewertung unterschiedlichster Einstellungsobjekte nehmen (Eagly/Chaiken 1993). Üblicherweise verwenden psychologische Studien zwar für die Untersuchungszwecke speziell erstellte, jedoch als real ausgegebene Materialien (z.B. Ziegler/Diehl 2003), etwa um die der Wirkung von Werbung zugrunde liegenden Mechanismen zu untersuchen (Wänke 2008). Erst in neuerer Zeit wird untersucht, inwieweit nicht nur rhetorische Appelle sondern auch narrative Inhalte Einfluss nehmen auf Einstellungen und Überzeugungen (Dal Cin/Zan­na/Fong 2004; Green/Brock 2000; Mar/Oatley 2008; Prentice/Gerrig 1999; Slater/Rouner 2002; Vaughn et al. 2010). Als wesentlicher Mechanismus wird hier die „Transportierung“ des Lesers (Green/Brock 2000) angeführt, die von externalem und narrativem Realismus beeinflusst wird (Busselle/Bilandzic 2008; siehe auch Gilbert/Tafarodi/Malone 1993), wobei interindividuelle Unterschiede in der Transportabilität existieren (Dal Cin et al. 2004; Mazzocco/Green/Sasota/Jones 2010), die wiederum von interindividuellen Unterschieden beeinflusst werden (Thompson/Haddock 2012). Die mögliche Rolle von Ambiguität ist hierbei noch nicht untersucht worden, obwohl die auf realweltliche Sachverhalte bezogenen oder potenziell beziehbaren Inhalte fiktionaler Texte per se als ambig gelten können. So kann gefragt werden, ob es für die Bewertung einen Unterschied macht, ob literarische Inhalte für „wahr“ oder „unwahr“ oder in dieser Hinsicht für mehrdeutig gehalten werden. Also z.B.: Spielt es für die Bewertung einer Romanfigur wie Sherlock Holmes eine Rolle, ob es ihn wirklich gibt? Zum anderen können eindeutig fiktionale Inhalte selbst mehrdeutig sein. Ein Beispiel ist Ambiguität des Textes hinsichtlich der Frage, ob Professor Moriarty stirbt oder nicht. Zu untersuchen ist daher, welche Faktoren (z.B. Merkmale einer Romanfigur, Leserpräferenzen, Status des Autors) unter welchen Umständen (z.B. hohe vs. geringe Transportierung) über welche Prozesse (z.B. voreingenommene Verarbeitung) Einfluss auf die Bewertung fiktionaler Ambiguität nehmen. Schließlich geht es um die Ambiguität selbst, die ein Grund dafür sein kann, einen literarischen Text positiv (oder negativ) zu bewerten.

Literatur:

Busselle, Rich; Helena Bilandzic (2008). “Fictionality and Perceived Realism in Experiencing Stories: A Model of Narrative Comprehension and Engagement.” In: Communication Theory 18.2, 255-280.

Dal Cin, Sonya; Mark P. Zanna; Geoffrey T. Fong (2004). “Narrative Persuasion and Overcoming Resistance.” In: Resistance to Persuasion. Hg. Eric S. Knowles und Jay A. Linn. Mahwah, NJ: Erlbaum, 175-191.

Eagly, Alice H.; Shelly Chaiken (1993). The Psychology of Attitudes. Fort Worth, TX: Harcourt Brace Jovanovich.

Gilbert, Daniel T.; Romin W. Tafarodi; Patrick S. Malone (1993). “You Can’t Not Believe Everything You Read.” In: Journal of Personality and Social Psychology 65.2, 221-233.

Green, Melanie C.; Timothy C. Brock (2000). “The Role of Transportation in the Persuasiveness of Public Narratives.” In: Journal of Personality and Social Psychology 79.5, 701-721.

Hunston, Susan; Geoff Thompson (Hg.) (1999). Evaluation in Text: Authorial Stance and the Construction of Discourse. Oxford: Oxford University Press.

Mar, Raymond A.; Keith Oatley (2008). “The Function of Fiction is the Abstraction and Simulation of Social Experience.” In: Perspectives on Psychological Science 3.3, 173-192.

Mazzocco, Philip J.; Melanie C. Green; Jo A. Sasota; Norman W. Jones (2010). “This Story Is Not for Everyone: Transportability and Narrative Persuasion.” In: Social Psychological and Personality Science 1.4, 361-368.

Peer, Willie van (Hg.) (2008). The Quality of Literature: Linguistic Studies in Literary Evaluation. Amsterdam: Benjamins.

Prentice, Deborah A.; Richard J. Gerrig (1999). “Exploring the Boundary between Fiction and Reality.” In: Dual-Process Theories in Social Psychology. Hg. Shelly Chaiken und Yaacov Trope. New York: Guilford Press, 529-546.

Slater, Michael D.; Donna Rouner (2002). “Entertainment-Education and Elaboration Likelihood: Understanding the Processing of Narrative Persuasion.” In: Communication Theory 12.2, 173-191.

Thompson, Rose; Geoffrey Haddock (2012). “Sometimes Stories Sell: When Are Narrative Appeals Most Likely to Work? In: European Journal of Social Psychology 42.1, 92-102.

Vaughn, Leigh Ann; Kathryn E. Childs; Claire Maschinski; N. Paul Niño; Rachael Ellsworth (2010). “Regulatory Fit, Processing Fluency, and Narrative Persuasion.” In: Social and Personality Psychology Compass 4.12, 1181-1192.

Wänke, Michaela (Hg.) (2008). Social Psychology of Consumer Behavior: Frontiers of Social Psychology. New York: Psychology Press.

Ziegler, René; Michael Diehl (2003). “Is Politician A or Politician B More Persuasive? Recipients’ Source Preference and the Direction of Biased Message Processing.” In: European Journal of Social Psychology 33.5, 623-637.