Uni-Tübingen

3 Relevanz

3.1 Form-Funktionsambiguität: informationselizitierende vs. rhetorische Fragen

Linguistik mit Literaturwissenschaft und Rhetorik

Dieses Dissertationsprojekt untersucht Fragen, die dieselbe Form haben (w-Frage, ja/nein-Frage, etc.), jedoch im Diskurs jeweils unterschiedliche Funktionen erfüllen (PS–/PS+). Im gegenwärtigen politischen Kontext wird angesichts der großen Flüchtlingsströme z. B. die Frage, ob die Grenzen von europäischen Staaten vollständig für Flüchtlinge geschlossen werden, in den Medien aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert: (1) Wer will das tun? Die Bedeutung der Frage scheint eindeutig: der Sprecher in (1) möchte wissen, welche Länder ihre Grenzen vollständig schließen wollen. Die Antwort könnte sein: Österreich, Polen, Ungarn, usw. Wenn diese Frage jedoch von Angela Merkel im Sommer 2015 geäußert wird, bedeutet sie etwas anderes. Diese Bedeutung kommt am besten durch die Diskurspartikel schon wie in (2) zum Ausdruck: (2) Wer schon will das tun? Die Äußerung in (2) sieht wie eine Frage aus, da sie mit einem wh-Frageoperator eingeleitet wird, doch der Sprecher erwartet nicht wirklich eine Antwort. Es handelt sich in (2) eindeutig um eine rhetorische Frage (RF) (Meibauer 1986; Schöpsdau 1996). Der Sprecher verwendet die syntaktische Form der Frage, hat aber bereits die Antwort vorweggenommen. Die Implikatur von (2) ist, dass es niemanden gibt, der das tun will. Die Äußerung des Sprechers, als Frage verkleidet, stellt nach gängiger Meinung in Wirklichkeit eine Assertation dar. Als solche wird sie nach Chafe (1976) dem Ccommon Ground hinzugefügt. Eine Ausnahme ist van Rooy 2003, der RFn als echte Fragen analysiert (vgl. Rohde 2006). In der Frage in (1) sind beide beschriebenen Bedeutungen vorhanden: einmal die informationselizitierende Frage, in der der Sprecher den Hörer bittet, eine Wissenslücke zu füllen und die RF, in der der Sprecher die Antwort kennt und die Frageform aus anderen Gründen wählt. Die syntaktische Form der wh-Frage in (1) ist identisch, die Funktion jedoch ambig. Die Ambiguität kann im Deutschen durch Partikel wie „schon, sonst, denn“ (vgl. Klein 2015) oder andere linguistische Mittel (z. B. Polaritätselemente wie „jemals“) disambiguiert werden (vgl. Han 2002; Romero & Han 2004; Engdahl 2006).

Das Dissertationsprojekt soll untersuchen, wie Form-Funktionsambiguitäten zustande kommen. Mithilfe von systematischen Korpusstudien (z. B. COSMASII, BNC) sollen die Typen der RF gesucht, in TInCAP eingegeben und analysiert werden. Darauf aufbauend sollen die Kontexte identifiziert werden, in denen solche Sprechaktambiguitäten (Aufforderung vs. Behauptung) vorkommen und die Faktoren bestimmt werden, durch die sie im Diskurs aufgelöst werden können. Eine Frage besteht darin, wie die Form-Funktionsambiguität strategisch eingesetzt wird (PS+; vgl. Knape et al. 2009; Knape/Winkler 2015, Molnár/Winkler, angenommen). Die Verwendung einer RF scheint an sich bereits ein Kunstgriff, der strategische Einsatz aus der politischen Rede bekannt, doch die Untersuchung der Funktionsweisen steht noch aus. Anhand historisch und politisch relevanter Reden (z. B. Goebbels 1943 Sportpalast-Rede, Reagans 1980 Wahlkampfmotto Are you better off than four years ago? und Trumps 2016 What the hell do you have to lose?) soll diese Lücke geschlossen werden.

Bibliographie

Chafe, Wallace L. (1976). "Givenness, Contrastiveness, Definiteness, Subjects, Topic, and Point of View." Subject and Topic. Hg. Charles N. Li. New York: Academic Press. 27-55.

Engdahl, Elisabeth (2006). "Information Packaging in Questions." Empirical Issues in Syntax and Semantics. Band 6. Hgg. Olivier Bonami und Patricia Cabredo Hofherr. 93-111.

Han, Chung-hye (2002). "Interpreting Interrogatives as Rhetorical Questions." Lingua 112.3: 201-229.

Klein, Wolfgang (2015). "Verwirrendes und Klares über schon und noch." Vortrag an der Universität Tübingen.

Knape, Joachim; Nils Becker and Katie Böhme (2009). "Strategie." Historisches Wörterbuch der Rhetorik 9. Ed. Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer. 152-172.

Knape, Joachim and Susanne Winkler (2015). "Strategisches Ambiguieren, Verstehenswechsel und rhetorische Textleistung. Am Beispiel von Shakespeares Antony Rede." Ambiguity. Language and Communication. Hg. Susanne Winkler. Berlin et al.: de Gruyter. 51-88.

Meibauer, Jörg (1986). Rhetorische Fragen. Tübingen: Niemeyer.

Molnár, Valéria und Susanne Winkler (zur Veröffentlichung angenommen). "The Strategic Functions of Questions and Ambiguity: A Comparison Between German and Swedish." Strategies of Ambiguity. Hgg. Matthias Bauer und Angelika Zirker.

Rohde, Hanna (2006) "Rhetorical Questions as Redundant Interrogatives." San Diego Linguistic Papers 2: 134-168.

Rooy, Robert van (2003). "Negative polarity items in questions: Strength as relevance." Journal of Semantics 20: 239–273.

Romero, Maribel und Chung-hye Han. "On Negative Yes/No Questions." Linguistics and Philosophy 27: 609. https://doi.org/10.1023/B:LING.0000033850.15705.94.

Schöpsdau, Klaus (1996). "Rhetorische Frage." Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 3. Hg. Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer. 445-454.

3.2 Die contra-proferentem-Regel – eine rechtslinguistische Untersuchung

Rechtwissenschaft mit Linguistik und Philosophie

Als contra-proferentem-Regel wird der Gedanke bezeichnet, dass bei der Auslegung von Verträgen die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks zu Lasten desjenigen geht, der den Ausdruck in den Vertrag eingeführt hat. Sie formuliert das gleiche, was in Bezug auf das römische Recht mit „ambiguitas contra stipulatorem“ bezeichnet wurde. Im deutschen BGB ist sie in § 305c für Allgemeine Geschäftsbedingungen enthalten. Die Principles of European Contract Law, eine Zusammenstellung gemeinsamer europäischer Rechtsgrundsätze, umschreiben sie in Art. 5:103 („Where there is doubt about the meaning of a contract term not individually negotiated, an interpretation of the term against the party who supplied it is to be preferred.“). Die strategische sowie die nichtstrategische Verwendung von Ambiguität (PS+/PS–) soll also sanktioniert werden und zwar durch eine bestimmte Auslegung. Das Ambiguitätsphänomen eines mehrdeutigen Ausdrucks wird hier demnach in verschiedenen Kontexten behandelt: Die Erstellung eines Vertragstextes und seiner Auslegung durch einen Dritten, typischerweise durch den Richter. Dabei bietet die Regel den Vertragsparteien auch die Möglichkeit, durch Postulierung einer Mehrdeutigkeit eine bestimme Auslegung zu erreichen (RS+).

Im Zentrum der Rechtsregel steht die Mehrdeutigkeit von in Verträgen benutzten Ausdrücken. Daher steht sie in Verbindung mit den Grundsätzen juristischer Auslegung. Methodisch stellt sich das hermeneutische Problem jeder Auslegungsregel, nämlich, dass ihr Ausgangspunkt („mehrdeutig“) selbst schon auf einer Auslegung beruht. Neben Geschichte, Systematik und Funktion der Regel soll unter Rückgriff auf rechtslinguistische Fragestellungen und Ergebnisse (Rathert 2015) insbesondere untersucht werden, nach welchen Kriterien bestimmt werden kann, was im Sinn der Regel unbestimmt und vieldeutig ist. Daher bietet sich auch eine Kooperation mit Projekten an, welche das Unbestimmtheitsphänomen der Vagheit behandeln.

Bibliographie

Rathert, Monika (2015). "Ambiguity." Encyclopedia of Linguistics. Hg. Philipp Strazny. New York: Fitzroy Dearborn.

3.3 Alttestamentliche Annotationen zur Interpretation des Christusglaubens und große Themen der Antike im Neuen Testament

Theologie und Klassische Philologie mit Literaturwissenschaft

Die neutestamentlichen Texte beschreiben den für die jüdische Tradition und für die hellenistische Umgebung neuen Christusglauben, um diesen verständlich zu erschließen. Die Produktion der neutestamentlichen Texte kann als Akt der Disambiguierung des Christusglaubens begriffen werden. Insofern der Christusglaube im Anschluss an die alttestamentlich-frühjüdische Tradition als der angemessene Gottesglaube behauptet wird, bedeutet die Produktion der neutestamentlichen Texte eine strategische Ambiguierung (des alten Gottesglaubens) (PS+) zum Zweck der Disambiguierung. Dieser Akt der Interpretation wird unterstützt durch Annotationen alttestamentlicher Texte. Texte werden aus weit entfernten Kontexten entnommen, wodurch Bedeutungserweiterungen und Ambiguitäten entstehen können. Die von den neutestamentlichen Autoren intendierte Disambiguierung kann aus frühjüdischer Perspektive als strategische Ambiguierung bei der Produktion neuer Texte (PS+) und der Rezeption alter Texte begriffen werden (RS+). Es entstehen auch unbeabsichtigte Ambiguierungen, wenn die erinnerten Texte missverstanden oder neu kontextualisiert werden (RS–). Die Interpretation formt den neuen Christusglauben im Sinne einer Ambiguitätsmodellierung.

Ausgehend von exegetischen Untersuchungen neutestamentlicher Texte kann die Wahrnehmung von Ambiguitäten strukturiert und in ihrer Wirkung auf die Entwicklung des Christusglaubens theologisch und hermeneutisch reflektiert werden. Dabei ist die Relevanz des in der Ab-sicht disambiguierenden und im Vollzug der Rezeption ambiguierenden Interpretationsprozes-ses darin wahrzunehmen, dass zum einen die frühchristlichen Gruppierungen gegenüber der jüdischen und der griechisch-hellenistischen Umwelt ihre Identität klären und darstellen mussten. Aber auch innerhalb der frühchristlichen Gruppierungen gab es sich gegenseitig abgrenzende Diskurse zur Konkretion der eigenen Identität. So entwickelten sich voneinander abweichende Theologien. Die konkrete Lebensgestaltung rückte in den Blick. Eine Verständigung über aufgrund unterschiedlicher traditions- und religionsgeschichtlicher Hintergründe ambige Vorstellungen zu großen Themen der Antike wie Gerechtigkeit oder Freiheit wurde erforderlich. Anschlussmöglichkeiten bestehen zur Altphilologie, Philosophie und Rhetorik und insbesondere zu den Projekten zu Ambiguität, Annotation und Interpretation (z. B. 3.4.2.4).

 

3.4 Literarische Ambiguität und Disambiguierung als Rezeptionsverfahren

Literaturwissenschaft mit Rhetorik und Linguistik

Ambiguität in literarischen Texten legt bestimmte Reaktionsweisen ihrer Leser nahe: Sie können (a) darüber hinweggehen, (b) ambige Textmerkmale mehr oder minder adäquat kontextualisieren, (c) Ambiguität mit Hilfe unterschiedlicher Argumentationsstrategien aufzulösen suchen. Verfahren (c) ist wissenschaftlich besonders kontrovers, aber anlassbezogen üblich. Die Verfahren sind dabei strukturell ähnlich, wenn auch nicht deckungsgleich: Üblicherweise werden Elemente aus dem jeweiligen literarischen Text entnommen, eingeschränkt kontextualisiert und für die jeweilige Argumentation funktionalisiert. Solche Reaktionsweisen sind zu analysieren, um Licht auf ein in der Forschung an Beispielen wahrgenommenes, aber systematisch nicht erfasstes Phänomen zu werfen. Kanonische Texte produzieren die beschriebenen Reaktionsweisen in besonderer Weise. Eine entsprechende Arbeit sollte ein Beispiel wie Goethes Werther wählen, der in vieler Hinsicht (Herausgeberfiktion, Briefroman, zwei autorisierte Fassungen usw.) ambig ist und, so die Hypothese, just in diesen Punkten unter den Zeitgenossen nicht nur strittig war, sondern auch eine Fülle von Wertheriaden pro und contra Werther hervorgerufen und langfristig zu neuen Interpretationen provoziert hat. Der Zusammenhang von Ambiguität im Text und Rezeption ist zu untersuchen und zu belegen, idealiter an Beispielkorpora (Leserzeugnisse, sofern vorhanden, synchrone Querschnitte durch Wertheriaden, etwa 1770er-80er Jahre, 1890/1900, Querschnitte durch die Literaturkritik und der Literaturwissenschaft). Dabei sind gattungsspezifische und historische Eigenheiten der Rezeption zu ermitteln und zu kontextualisieren. Es böte sich in diesem Zusammenhang an, auch nichteuropäische Rezeptionen des Werther (etwa durch chinesische Autoren wie Guo Moruo) einzubeziehen, um zu prüfen, inwiefern Strategien der Disambiguierung kulturell codiert sind und inwiefern neue Formen von Ambiguität erzeugt werden (RS+/PS+). Die interdisziplinären Verbindungen des GRK helfen, ein solches Vorhaben rhetorisch, literaturwissenschaftlich und linguistisch informiert umzusetzen. Voraussetzung ist eine eingehende Auseinandersetzung mit Literatur-, Interpretations-, Rezeptions- und Argumentationstheorie. Eine Zusammenarbeit mit dem Projekt zur (Nicht-)Wirksamkeit von Ambiguität in der Literatur (s. o. 3.4.1.1) liegt nahe.

3.5 Römische Wertbegriffe und griechische Philosophie / Mehrdeutige Schlüssel-begriffe im antiken Christentum

Latinistik mit Theologie

„Römische Wertbegriffe“ wie dignitas (Würde), honestas (Ehrenhaftigkeit), virtus (Tugend), pietas (Frömmigkeit), aber auch iustitia (Gerechtigkeit), prudentia (Klugheit) u. a. waren vor einigen Jahrzehnten Gegenstand einer intensiveren Debatte (Haltenhoff/Heil/Mutschler 2005); Nachwirkungen sind noch heute in Lehrplänen für Latein (z. B. in Bayern) zu finden. Von der Erwartung, spezifische Wertvorstellungen extrahieren zu können (die unserer „modernen“ Kultur dann ein Differenzerlebnis bescheren), ist man abgekommen. Das Problem, dass diese Begriffe in starkem Maße mehrdeutig sind, bleibt. Eine besondere Herausforderung stellt dar, dass Wertbegriffe im Spannungsfeld kultureller Systeme zwischen verschiedenen kulturellen/sprachlichen Referenzen schwanken und sogar für verschiedene Deutungen gleichzeitig in Anspruch genommen werden können. Im Falle der römischen Kultur werden Wertbegriffe vor allem mit korrespondierenden Begriffen der griechischen Philosophie hinterlegt (virtus etwa mit arete, iustitia mit dikaiosyne usw.). Die sich daraus ergebende Ambiguität wird oft strategisch eingesetzt, und zwar auf Produktionsseite (PS+) wie auch auf Rezeptionsseite (RS+); ein Fall strategischer Rezeption liegt z. B. vor, wenn Caesar als Grund für die Überschreitung des Rubikon auf die Wahrung seiner dignitas (Würde) verweist und Cicero dann in seiner Interpretation dignitas in Richtung einer deutlich philosophisch fundierten Tugendethik umlenkt. Neben Cicero sind als Autoren u.a. auch einschlägig Seneca, Sallust und die Dichter der augusteischen Zeit. Vergleichbare Ambiguitäten sind interdisziplinär zu beobachten. Eine engere Parallele bieten die Texte des Neuen Testaments (vgl. 3.4.3.3), in denen der Rückgriff auf ältere kanonische Texte (etwa des AT) und die textinterne theologische Systematisierung zu trennen sind (vgl. Einzelbericht Kohler); z. T. kommt auch hier der Kontext griechischer Philosophie hinzu. Da die materiale Basis und methodisch-technischen Herangehensweisen ähnlich sind, sollen entsprechende Dissertationen jeweils wechselseitig durch Theologie (Landmesser) und Klassische Philologie (Leonhardt) betreut werden. Ein Ausbau der Dissertationsthemen in Richtung Analyse moderner multikultureller Gesellschaften ist perspektivisch denkbar; die linguistische Begleitung der semantischen Analysen hilfreich.

Bibliographie

Haltenhoff, Andreas; Andreas Heil und Fritz-Heiner Mutschler (Eds.) (2005). Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft. München/Leipzig: Saur.